Die Wolfgang Dittrich Seite
Gibt es nur eine Wahrheit?

Der Ozean der Möglichkeiten und die Inseln der Gewissheit
Eine Argumentensammlung gegen religiöse Intoleranz

von Wolfgang Dittrich


veröffentlicht im Luxemburger Wort vom 15. Juli 2010
"Das Luxemburger Wort für Wahrheit und Recht ist mit einer Auflage von rund 85'000 Exemplaren die führende Tageszeitung in Luxemburg." (Wikipedia)


W.Dittrich Mit dieser Betrachtung will ich - ein Laie auf den Gebieten der Philosophie und Theologie - aus der Perspektive eines Ingenieurs und Naturwissenschaftlers dazu beitragen, dass Gegenpositionen nicht zu Feindschaften führen. Versuchen möchte ich also, diese Denkfelder zu versachlichen.

Eine weitere Vorbemerkung: Die herangezogenen Literaturstellen sind nicht die Meinung des Verfassers - dieser soll lediglich Beobachter sein. Die Bezugnahmen sollen die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Denkens im "Ozean" verdeutlichen. Die Meinung des Verfassers kommt nur zum Ausdruck, wenn es darum geht, Wahrheitsansprüche im Bereich des "Ozeans" abzuwehren. Hierbei soll der Respekt gegenüber Wissenschaftlichkeit, den Meinungen und Überzeugungen im Bereich des "Ozeans" unberührt bleiben.

1. Entwicklung eines Denk-Rasters "möglich - gewiss"

1a) Der Ozean der Möglichkeiten
Wir leben in einem Ozean der nahezu unbegrenzten Denk-Möglichkeiten. Die prinzipiell freie Meinung, Überzeugung und Gestaltung in Literatur und den Künsten, die freie Interpretation der Welt mit Philosophie und Religion. Diese Zustände entsprechen einer großen, sehr großen Flüssigkeit - verschiebbar, stürmisch oder still, heiß oder kalt mit unendlich vielen Zwischentönen. Ohne diese ozeanische und vielfach kontingente Kultur wäre unser Leben arm - es bliebe das Bemühen, das Leben materiell zu maximieren.
Vieles kann wirklich oder nur möglich sein oder außerhalb der Möglichkeiten ausgedacht werden, kann so sein, anders sein oder auch nicht sein /4/! Die Religionen bieten oft sehr unterschiedliche Möglichkeiten des Glaubens. Unterschiedliche Weltanschauungen, Spekulationen kursieren. Bertrand Russell /9/ sieht den Wert der Philosophie gerade in der Ungewissheit, die sie mit sich bringt. Die Einzigartigkeit des Menschen kann hier gedeihen. Hier schwimmen und schaukeln die Schiffchen der Phantasie, des Ruhmes, der Angst, der Liebe - aber auch der Macht - und des Wahrheits-Anspruchs samt Fanatismus mit ihren nicht selten verheerenden Folgen! Eine umfangreiche Betrachtung des religiösen und weltanschaulichen Denkozeans ist im Buch "Über Deutschland" von Germaine de Stael /12/ enthalten.

Ozean, Insel(n), Wahrheit(en)
   Kant: "Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes ... nicht nur durchreist ... sondern es auch durchmessen, und jedem Ding auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderlichen Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit, umgeben von einem weiteren und stürmischen Ozean, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzendes Eis neu Länder lügt ..." /1/
   Locke: "Man sucht vergeblich nach dem zufriedenstellenden, ruhigen und sicheren Besitz der für uns wichtigen Wahrheiten, wenn man seine Gedanken auf dem weiten Meer der Dinge so schweifen lässt, als wäre dieser grenzenlose Raum das natürliche und unbezweifelbare Eigentum unseres Verstandes ..." /2/
   Kant verwendet das Wort "Insel" in der Einzahl. Da es bis heute keine summarische Wissenschaft gibt, sondern nur in engen Bereichen zahlreiche Spezialwissenschaften (z.B. Thermodynamik, Elektrizitätslehre usw.), verwende ich das Wort "Insel" in der Mehrzahl.
   Bemerken möchte ich außerdem: Ich gehe davon aus, dass unsere Welt eine Wirklichkeit ist, die außerhalb und unabhängig von den Empfindungen unserer Sinne und unseres Bewusstseins existiert.

Die oft nebeneinanderstehenden philosophischen Werke vermitteln dem staunenden Beobachter den Eindruck einer Blumenwiese. Der Streit im "Ozean" eskaliert nicht selten zu scharfen Auseinandersetzungen, wie die Kontroverse zwischen Hans Küng und Hand Albert zeigt - mittels der Bücher "Christsein" und "Existiert Gott?" einerseits und dem Buch "Das Elend der Theologie" andererseits. Dem unbefangenen Leser fällt es schwer, einem der beiden wissenschaftlich orientierten "Streiter" Recht zu geben. Hierzu gibt es wohl auch keine unparteiische Instanz. Dieses Faktum rechtfertigt die Zuweisung dieser Texte in den Bereich der Möglichkeiten - und in den Bereich der Kontingenz. Zusammenfassend lässt sich wohl sagen, dass im Bereiche des "Ozeans" zu jeder "Rede" eine "Gegenrede" möglich ist. Die Sachlage im Bereich der "Inseln der Gewissheit" ist eine grundsätzlich andere.

1b) Die Inseln der Gewissheit
In diesem Ozean strebte Friedrich Ancillon (1767 - 1837) /3/ Klarheit durch Trennung an: "Die Hauptsache bleibt immer ... in dem Innern seiner Seele das, was in der Gesamtheit seiner Gefühle mit seinen Vorstellungen ihm rein persönlich ist, was sein Werk ist, von dem zu unterscheiden, was in allen menschlichen Seelen sich vorfindet, was allen gemeinschaftlich ist - das Objektive, Gegebene, von unserer Ansicht Unabhängige: die eigentlichen Wissenschaften mit den Phänomenen des äußeren und des inneren Sinnes, welche sie durch die sinnlichen Anschauungen auffaßt oder auf die Verhältnisse, welche sie vermittelst des Verstandes zu erklären und in einem innigen Zusammenhang zu bringen sucht." Also: die Trennung des Subjektiven vom Objektiven.

Skizzenhaft verkürzt läßt sich nach Paul Feyerabend folgende Entwicklung erkennen: Das archaische Weltbild und Wissen in den homerischen Epen praktizierte eine additive Behandlung von Gegenständen und zeitlichen Abfolgen, wobei Begriffe und Interpretationen fehlen (/27/ Abschnitt 3).
Die nachfolgende Philosophie erfindet die Hypothese und die Fiktion und befreit somit die Dichtung und die Philosophie vom Zwang des Wahrheitsberichtes und stellt sie in den Dienst der Wahrheitsfindung und der Eröffnung der Möglichkeiten (/27/S.164). "In dieser Ideologie macht sich darüber hinaus eine gewisse Intoleranz in wachsendem Ausmaße geltend anstelle der archaischen Duldung verschiedener Ideologien..." (/27/S.167).
Diese nunmehr existierenden Methoden der Philosophie provozierten eine von Francis Bacon geforderte Gegenbewegung: eine Wissenschaft auf der Grundlage "unverfälschter Erfahrung". Damit wurde Bacon zum Wegbereiter der Empirie und Naturwissenschaften.

So steigen die Inseln aus dem Ozean: aus hartem Material, solide gegründet und befestigt durch Menschenhand gegen den Anprall der Wellen, nicht selten im harten Überlebenskampf bewährt oder dem Untergang verfallen. Nur Felsen können bestehen. Hier sind die "harten Wissenschaften" am Werk und es herrscht eiserne Begrenztheit innerhalb der "Naturgesetze" - von uns in Denkfiguren umgesetzt, die sich bewährt haben /19/, die nur dann als gesichert oder als gewiss gelten, wenn sich das Untersuchte in den Grundlagen (z.B. Naturkonstanten) nicht ändert, die gefundenen Zusammenhänge wiederholbar sind und kohärente Ergebnisse vorliegen bei Anwendung verschiedener Methoden. Mitwirkend sind neben der Sinnlichkeit der Verstand mit Begriffsbildungen und überlegenden Betrachtungen - und nicht selten die Intuition - begründet auf solidem Wissen. Mit dieser Problematik und der sprachlichen Treffsicherheit der Aussagen beschäftigten sich Paul Feyerabend /5/ und Ludwig Wittgenstein /6/. In diesem Zusammenhang sei auch auf das Kapitel "Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken" des Buches "Erkenntnis und Irrtum" von Ernst Mach verwiesen.
Die Eindeutigkeit hat auch jedoch Grenzen: Das Photon z.B. wird versuchstechnisch entweder als Welle oder als Teilchen erkannt - die Differenz könnte kaum größer sein! Auch die Heisenbergsche "Unschärfe-Relation" erweist u.a. sich als ein Begrenzung der "Gewissheit"! Aufgrund der Ergebnisse der "harten" Naturwissenschaften konnte sich eine zuverlässige Technik entwickeln: von der Waschmaschine bis zur Kraftübertragung über 1000 km - aber auch für zielsichere Raketen mit atomaren Sprengladungen.

1c) Der Zwischenbereich
Das beschriebene Denk-Raster erzeugt einen Zwischenbereich, der einerseits durch harte Messgrößen und andererseits durch sehr große Komplexität oder durch Menschen verursachte Imponderabilien gekennzeichnet ist, wie dies z.B. bei Wettervoraussagen und Wirtschaftsprognosen /23/ meist der Fall ist. Auch die Geschichtsschreibung lebt im Zwischenbereich - sie ist eine Mischung aus Faktensammlung und oft sehr unterschiedlichen Interpretationen.
Grundsätzlich:
Jede Interpretation (jenseits der harten Wissenschaft) müsste alle Umstände in Betracht ziehen, d.h. sie braucht Kenntnisse, die im Gespräch oft nicht zur Verfügung stehen. Nicht nur lange Reden, sondern selbst die Anschauungen selbst sind unzuverlässig - Schein haftet allen an! Resultat: Die mit Anschauung verbundene Rede ist nur wahrscheinlich! (/27/S.227)

2. Anwendung des Denk-Rasters auf den Begriff "Wahrheit"
Nun soll eine erhöhte Sensibilität für den Begriff "Wahrheit" bzw. auf das Wort "wahr" angewendet werden.

2a) Die Problematik
Das Ringen um einen Erkenntniszustand, das diesem Wort gerecht wir, ist Geschichte. Allein zur Beschreibung dieses Begriffes braucht das philosophisch-historische Wörterbuch 140 Spalten! Die hierzu grundlegenden Erörterungen von Friedrich Heinrich Jacobi /24/ verdeutlichen die Problematik.
Nach Rorty /4/ sollte anstatt "wahr" die Wortfolge "gerechtfertigte Behauptung" verwendet werden. Auch die Wortfolge "gesicherte Aussage" könnte hilfreich sein, wenn "Gewissheit" vorliegt. Nach Wittgenstein (Sicht 86) /6/ könnte "ich weiß" durch "Ich bin der unerschütterlichen Überzeugung" ersetzt werden.
Wahrheitsvermittlung ist ein Grundanspruch von Religionsgemeinschaften.
Wie sicher ist jedoch die Basis einer oft behaupteten "Wahrheit"?
Im Hinblick auf die speziellen Ansprüche, welche die harten Wissenschaften stellen, können religiöse Wahrheiten nicht in dem Bereich der Gewissheit ihren Platz finden. Im Denkbereich der Möglichkeiten befindet sich jedoch ein angemessener Platz für den Denkbereich des Glaubens!

Auf der Seite der Theologen zeigt sich nicht selten große Glaubenskraft und eine große Klarheit metaphysischer Anschauungen (z.B. Schleiermacher). Auch der Hinweis auf Vernunft wird als Beweisargument verwendet, obwohl dieser Begriff außerordentlich vieldeutig ist! (siehe philosoph.-historisches Wörterbuch: 120 Spalten!) Für Pascal ist die Schwäche der Vernunft erwiesen. Während in Frankreich der philosophische Geist über das Christentum spöttelte, war dieses in Deutschland ein Gegenstand der Gelehrsamkeit /12/.

2b) Behauptungen und Festsetzungen
Hier soll jetzt genauer hingeschaut werden!
In unserem Kulturkreis, in dem die christlichen Religionsgemeinschaften dominant sind, haben diese mehr oder weniger unterschiedliche Behauptungen und Glaubensfestsetzungen als "Wahrheit" präsentiert. Die römisch-katholische Kirche beansprucht sogar, allein die Wahrheit zu besitzen.

Zunächst geht es nur um Details der Glaubensinhalte - hierbei erbrachte die christliche Theologie eine nahezu unübersehbare Fülle an Behauptungen, die zum großen Teil als Offenbarungen deklariert werden. Deren Auslegungen variieren und führten zu endlosen Interpretations-Streitigkeiten zwischen Theologen und zwischen Glaubensgemeinschaften.

2c) Zur Existenz Gottes
Weiter kommen wir zu der Grundsatzfrage, ob es Gott gibt oder nicht gibt.
Bis in die frühe Neuzeit wurden zahlreiche "Gottesbeweise" von Anselm von Canterbury bis Descartes /7/ erdacht. Anselm von Canterbury selbst stellte vor fast 1000 Jahren die moderne Frage: können wir überhaupt von Gott reden? Sind es nicht am Ende immer Aussagen über uns? /13/ Erst mit Kant (Anlage 1) gelten diese "Beweise" als zurückgewiesen und nicht möglich.
Hans Küng schreibt hierzu /27/: "Nein, es gibt keinen zwingenden Beweis für die Existenz Gottes, aber - ich habe auf diese oft ignorierte Rückseite der Argumentation Kants hingewiesen - es gibt auch keinen dagegen! Warum? Weil ein negatives Urteil den Horizont der raumzeitlichen Erfahrung ebenfalls überschreiten würde. Wer zugibt, der nicht hinter den Vorhang der Phänomene gucken kann, darf auch nicht behaupten, es sei gar nichts dahinter."

2d) Zur Erkennbarkeit Gottes
Die sogenannte "negative Theologie" formulierte:
Gott sei nicht menschlich, nicht weltlich,
er sei der Ganzandere, eine Nichtheit und letztlich ein unbegreifliches Geheimnis.
Auch ein nächster Schritt gibt es zu bedenken: Theologen selbst (Jesaia, Luther, Calvin) haben den Begriff des "Deus absconditus" (der verborgene Gott) geschaffen. Gott ist nach menschlichem Vorstellungsvermögen prinzipiell unerkennbar.
Eine gegenwärtige Stimme hierzu: Hans Küng schreibt: Gott ist der Unbegreifliche, der Unsichtbare, der Undefinierbare /27/.
Zweifel an der Zuverlässigkeit der "Offenbarungen" äußerte Nikolaus von Kues in seinem Werk "Idiota" /8/: "Bedenken wir es richtig, dann haben wir in unserem Wissen außer Mathematik nichts Sicheres". Hierzu brachte er die Wichtigkeit der Experimente im Kapitel " De statics experimentis" in Verbindung.
Wir befinden uns in der Sphäre des Unmanifesten!

2e) Resultat
Im Hinblick auf diese sicherlich unvollständige Sammlung kann das gewaltige Ausmaß an theologischer Literatur mit ihren Wahrheitsansprüchen wohl nur als Anmaßung bezeichnet werden! Diese Sachlage provoziert die Frage: Ist es gerechtfertigt, Andersgläubige, Andersdenkende zu verfolgen, zu töten und Glaubenkriege zu führen?

Anlage 1
Aus Kants "Kritik der reinen Vernunft ", drittes Hauptstück:
Von den Beweismöglichkeiten der spekulativen Vernunft auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen.
Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes.
Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes.
Entdeckung und Erklärung des dialektischen Scheins in allen transzendentalen Beweisen vom Dasein eines notwendigen Wesens.
Von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises.
Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft.

3. Fragen und Denken im Bereich der Metaphysik

Es geht in diesem Denkbereich um die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins - jenseits der physikalischen Welt in Raum und Zeit - also um Metaphysik.

Die großen Fragen der Menschheit bleiben bis heute unbeantwortet:
wir kennen keinen definitiven Sinn des Lebens und den sicheren Weg zum Glück /8a/. Die Fragen und Erörterungen, die mit den Religionen verbunden sind und speziell mit der christlichen sind allein ein nicht mehr überschaubarer und vielschichtiger Ozean. Als Beispiel sei hier auf die von Lessing angestoßene Toleranz- Wahrheits- und Vernunft-Debatte hingewiesen, die von der Lessing-Akademie begleitet wird /8b/:
Alle diese Nachdenklichkeit ist dem Ozean der Möglichkeiten zuzuordnen. Ein solcher Zustand der Freiheit begünstigt die personale Selbstkultivierung. Die von autoritären Systemen angestrebte Selbstverleugnung gepaart mit manipulierten Überzeugungen ist die negative Seite des Denkbereiches der Möglichkeiten.
Rorty fordert Freiheit statt Wahrheit /4/, Nietzsche verlangt einerseits perspektivisches Denken /9/ anstatt der Verkündigung und Durchsetzung von verbindlichen Wahrheiten. Andererseits weist er die Beliebigkeit von Urteilen zurück /9a/.
Feyerabend: "Die Veränderung der Perspektive macht klar, dass es viele Möglichkeiten gibt, die uns umgebende Welt zu ordnen" (/5/S.292). Mit Jörns scheint in jedem Menschen Gott auf andere Weise durch /10/. Nach Heinzmann ist eines jeden Menschen Religion sein ureigenstes Geheimnis /11/.

Auf die Folgen der Beschränkung von Denkmöglichkeiten (im Gegensatz zur archaischen Zeit der religiösen Eklektiker /21/) soll ein Beispiel hinweisen: Im 2.Jahrhundert nach dem Leben Jesu entstand in der jungen Kirche der Bedarf nach Dogmatik und Ausgrenzung von Andersdenkenden. Im Konzil von Nicäa (325) wurde erstmals auf einem Konzil die Denkfigur der Häresie aufgegriffen. Diejenigen, deren Meinungen mit den "Wahrheiten" der Kirche nicht übereinstimmten, wurden als "Häretiker" bezeichnet. Die Inquisition inszenierte eine der grausamsten Zustände in Europa /8d/.
Nicht alle beugten sich dieser vermeintlichen Verpflichtung gegenüber dem "wahren Glauben". So wurden bereits am Hofe von Friedrich des Zweiten, dem Kaiser des heiligen Römischen Reiches - sowohl Häretiker als auch Nichtgläubige toleriert. Erst das 2.Vatikanische Konzil erlaubte - vom säkularen Staat längst überholt /8d/ - Glaubensfreiheit - 700 Jahre verspätet!

Über der Menschheit schwebt fortwährend als ihre größte Gefahr der ausbrechende Irrsinn ... des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuss der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am Menschenunverstand. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nichtbeliebige im Urteilen /9a/.

4. Gegen das sogenannte Schubladendenken

Jeder Begriff verführt zu einem Denken im abgegrenzten Bereich - zu "Schubladendenken". Die geistige Wirklichkeit findet darin nicht statt!

Leidenschaftlich schreibt hierzu Paul Feyerabend (/5/S.103):
"Ich weiß, die Menschlichkeit ist ein sehr unklarer Begriff, aber man kann ihn erklären. Und da frage ich, was ist besser: ein Dasein als ein nicht zu kluger, aber auch nicht zu dummer Alltagsmensch mit der Fähigkeit zu Liebe, Trauer, Sympathie oder ein Dasein als Superwissenschaftler mit dem Gefühlsleben einer Bettwanze? Was ist besser: eine Welt, in der die Dichter und ihre Gesänge noch verstanden werden oder eine Welt, in der man solchem Reden keinen Sinn mehr abgewinnen kann ?"

Weiter schreibt Feyerabend (S.293): "Ich schlage vor, die Wissenschaft auf ihren Platz zu verweisen als eine interessante, aber keineswegs die einzige Form der Erkenntnis, die viele Vorteile, aber auch viele Nachteile hat."

Friedrich Würzbach /26/: Die isolierte Gesetzlichkeit des Verstandes ohne eingeborene Bildungskraft führt zur Barbarei.

Madame de Stael /12/ verbindet vor etwa 200 Jahren Inseln und Ozean, Physik und Metaphysik auf ihre Weise im Kapitel "Über die Betrachtung der Natur": "Erscheinungen der Natur sollen nicht bloß nach den Gesetzen der Materie begriffen werden, wie gut kombiniert diese Gesetze auch sein mögen, sie haben einen philosophischen Sinn und einen religiösen Zweck, dessen Umfang selbst die aufmerksamste Betrachtung nie ganz ermessen kann".

5. Jenseits von Sprache und griechischer Philosophie und Metaphysik

Der bisherige Diskurs lebt ausschließlich von Worten, Begriffen und deren Beziehungen - also mittels unserer Sprache.

Der Luxemburger Philosoph Georges Goedert /14/ fasst Nietzsches Kritik der allgemeinen Begriffe wie folgt zusammen: er ist der Ansicht, dass die abstrakten Begriffe und logischen Schemata die Authentizität des Werdens nicht widerspiegeln können und also falsch sind innerhalb der Relation von Denken und Wirklichkeit - sie sind inadäquates Ausdrucksmittel für die eigentliche Realität, nihilistisch in ihrer Wesenheit, wie die Vernunft selber, von der sie ausgehen.

Rorty geht von der Hinfälligkeit aller abschließenden Vokabulare aus /4/.

Nun berichten Mystiker und Meister der Meditation von Erfahrungen des "Unbedingten"(x) mit großer Klarheit, Einfachheit und Gewissheit im Unmanifesten - also jenseits des Verstandes im Bereich des Physischen. Paul Watzlawik /20/ hilft, indem er von Wirklichkeiten 1. und 2. Art spricht. Die 1.Art betrifft die objektive, die 2. Art die subjektive, personale.

Wo das "Räsonnement" endigt, hebt nach Ancillon /3/ die wahre Gewissheit an, denn die Wahrheiten des Gefühls haben Stärke, die unser ganzes Wesen zu ihrer Unterstützung auffordert.

Friedrich Heinrich Jacobi erlaubt sich nicht, an Wahrheiten zu zweifeln, die aus dem Innern der Menschheit hervorgehen.

Pascal (Pensees) ".... denn es gibt außer dem Glauben keine Gewissheit ".

Gerhard Richter, der berühmteste Maler der Gegenwart, rät beim Betrachten eines abstrakten Bildes: Alles sehen, nichts begreifen! - das Unbewusste - es ist gescheiter, sicherer im Erfassen als der Verstand /18/.

Kent Nagano, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper:
"Ist es nicht die Suche nach einer Wahrheit hinter den Dingen? Nach einer "Schönheit" hinter den Dingen, einer Schönheit, die nichts mit Oberfläche, nichts mit Happy End zu tun hat ? Sondern eine tiefere Schönheit!" /15/.

Eugen Biser - katholischer Theologe - mit seinem revolutionären Denken der "Theologie der Zukunft" legt jenseits der griechischen Philosophie und Metaphysik den Blick frei auf ein dramatisches Leben Jesu mit Gottesgewissheit - zum Erweis eines bedingungslos liebenden Gottes (xx) und zur Überwindung der auf Intoleranz, Hass und Gewalt gegründeten Verhältnissen /16/.

x) nach Paul Tillich
xx) im krassen Gegensatz zu den zahlreichen Schriftstellen über einen strafenden und rächenden Gott des alten und neuen Testaments /25/.

Völlig anders als mit Methoden der "harten Wissenschaften" wird hier ein unmittelbares, nicht diskursives, höchst persönliches Erkennen und Erfassen konstituiert. In der Szene der Metapher kann man vielleicht sagen:
Der Ozean der Möglichkeiten zieht sich zu einer Insel der intuitiven Gewissheit zusammen. Diese Art von Gewissheit in Verbindung mit Macht ist jedoch eine gefährliche Mischung!

6. Zu den Methoden dieser Abhandlung
Diese Abhandlung weicht teilweise von wissenschaftlichem Vorgehen ab - sie ist ein Konstrukt mittels der Methode der selektiven Filterung des "Ozeans" zugunsten der hier vertretenen Perspektive. Mit anderen Worten: die bekannten Gegenargumente aus dem Bereich des Glaubens werden nicht erwähnt.

7. Ziel dieser Abhandlung
Die "Wahrheit" soll nicht weiterhin Grund zu "Rechthaberei", zu fanatischem Streit, zu Feindschaft, zum Töten und zum Morden sein -, auch wenn die Verfechter der einen Wahrheit meinen, sie haben ihren Glauben unangreifbar gemacht. Deren Argumente können auch nur durch selektive Filterung des "Ozeans" mit seinen nicht gesicherten Prämissen (z.B. Offenbarungen, Glauben, Mythen) zugunsten ihrer Perspektive und ihres Ergebniszieles gewonnen werden!
Anstatt solcher Bemühungen könnte doch allgemein gelten:
"Wir können voneinander lernen; einander nicht nur "tolerieren", sondern uns zu verstehen versuchen, um uns selber besser zu verstehen und um zu "kooperieren" (/27/S.232).

8. Die unüberwindbare Differenz
Die "harten Wissenschaften" auf den "Inseln" arbeiten mit experimentell gesicherten Prämissen und speziellen Methoden, die reproduzierbare Ergebnisse liefern können und so zur Gewissheit führen. Diese Sachverhalte und Methoden stehen jedoch im vielfach kontingenten "Ozean" und so auch im religiösen Bereich nicht zur Verfügung.
Auf diese Differenz haben bereits Nikolaus von Kues /8/, Kant /1/, Locke /2/ und Ancillon /3/ hingewiesen.

9. Die Bedeutung des "Ozeans"
Der größte Teil unserer geistigen Tätigkeit befindet sich im Bereich des Ozeans und eröffnet die Freiheit des Denkens für den persönlichen Glauben (nicht nur in religiöser Hinsicht!), die Künste, die Literatur, die Philosophie und die Religionen. Die Qualität der Wissenschaftlichkeit im Bereich des Ozeans steht jener in den "Inseln der Gewissheit" nicht nach. Denk-Methoden und -Figuren leisten wichtige Beiträge zur Daseinsdeutung. So könnten z.B. - nach der laienhaften Einschätzung des Verfassers - die Basisüberlegungen von Martin Heidegger "zur Sache des Denkens" gegenüber der Einführung von diskreten Energiequanten durch Max Planck als ebenbürtig eingestuft werden.

Ozeaninsel-Literatur  [zugleich eine Art Personenverzeichnis, da in dieses nicht aufgenommen]
/1/ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 236, B 295
/2/ John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Einleitung, § 6, 7
/3/ J.P. Friedrich Ancillon, Über Glauben und Wissen in der Philosophie, 1824
/4/ Richard Rorty, Der Spiegel der Natur (1979), Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, Suhrkamp Verlag
/5/ Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Suhrkamp 1986
/6/ Ludwig Wittgenstein, Über Gewissheit, Suhrkamp 1970
/7/ Otto Jasniewicz, Der Gottesbegriff und die Erkennbarkeit Gottes von Anselm von Canterbury bis Rene Descartes, Diss. Erlangen, 1907
/8/ Nicolaus von Kues, Idiota, mit den Kapiteln: De sapientia, De mente, De staticis experimentis, 1450
/8a/ Michael Conradt, Die Liebe zur Weisheit - Zum Ursprung der abendländischen Philosophie, Bayr. Rundfunk, Sender 2, Radiowissen, 17. Juni 2009
/8b/ Ingrid Strohschneider-Kohrs, Historische Wahrheit der Religion, Hinweise zu Lessings Erziehungsschrift, Kleine Schriften zur Aufklärung 16, 2009, Herausgeber: Lessing-Akademie Wolfenbüttel
/8c/ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themenband 86, 2000
/8d/ Sean Martin, Die Katharer, Verlagsgesellschaft Wien, 2008
/9/ Friedrich Nietzsche, Unser neues Unendliches, Fröhliche Wissenschaft und A. Pieper: Das stille Auge der Ewigkeit, Vortrag im Nietzsche-Forum München am 21.2.2002
/9a/ Johann Prossliner, Diese beispiellose Vertracktheit, Vortrag am 90. Gründungsjubiläum der ersten Nietzsche-Gesellschaft in München, Nietzsche-Forum München am 5/6.12.2009
/10/ K.P. Jörns, Notwendige Abschiede, Gütersloher Verlag
/11/ Richard Heinzmann, Vorlesungen an der Universität München
/12/ Germaine de Stael-Holstein, Über Deutschland, Insel Verlag, lit 623,1985
/13/ EKD Newsletter, 21. April 2009
/14/ Georges Goedert, Aspekte und Ansprüche der Nietzsche-Lektüre, Vortrag Seniorenstudium Univ. München, WS 2008/2009 und Nietzsche: Nachlass des Jahres 1873 Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, S.873ff.
/15/ G. Gorkow, Interview, über "Heimat", Südd. Zeitung 27./28.6.09
/16/ Martin Turner, Der Lebensweg Jesu in der Theologie Eugen Bisers, Vortrag am 10. Juli 2009 im Seniorenstudium der Univ. München
/17/ Friedrich Nietzsche, in /16/
/18/ Eva Karcher, Gerhart Richter über die Schönheit, Südd. Zeitung, 14./15.7.2009
/19/ Hrg. Heinz Gumin und Heinrich Meier, Einführung in den Konstruktivismus, Veröff. Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1992
/20/ Paul Watzlawik, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, Serie Pieper
/21/ F.Schachenmayer, Die frühe Klassik der Griechen, Stuttgart 1966 und /5/ S.322
/22/ Hasso Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, Zweite Auflage, Carl Friedrich von Siemens Stiftung München, Themenband 64, 1997
/23/ Thomas Lux, Die Welt als Modell und Vorstellung, Süddeutsche Zeitung, 22./23.8.2009
/24/ Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus, in Werke, 2.Band, Wiss. Buchgesellschaft, 1976
/25/ Franz Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie glauben, Alibri-Verlag, Aschaffenburg
/26/ Wolfgang Dittrich, Wissenschaft, Wahrheit und Glauben nach Kant, Goethe und Nietzsche aus dem Buch "Erkennen und Erleben" von Friedrich Würzbach, Vortrag im Nietzsche-Kreis München am 25.Mai 1987.
/27/ Hans Küng, Was ich glaube, Piper-Verlag, München Zürich, 5. Auflage 2009
/28/ Friedrich Wilhelm Graf, Anwalt des religiösen Pluralismus, Sendung des BR am 22.Nov. 2009, Autor Jochen Rack, Buch von F.W.Graf: Die Wiederkehr der Götter, Religion in der modernen Kultur, C.H.Beck-Verlag, 3. Auflage 2004

zu Pkt. 8 "Die unüberwindbare Differenz", Anmerkung von H. Hille vom August 2016:
Unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit wird auch viel Religionsersatz getrieben, besonders in der Theoretischen Physik. In der relativistischen "Forschung" geht man sogar so weit, um eines platten Materialismus willen mit hoch verfeinerten Messmitteln im Graubereich der Messtoleranzen die Existenz der zu Einsteins autistischen Thesen passenden Natur zu "beweisen" - s. (I/B16). Geistiges, wie gesetzte Messgrößen, seien physikalische Objekte. Zum Beispiel wäre die Zeit, das Maß der Dauer, eine Sache, die gemessen, gebogen und gedehnt werden könne. Für andere Physiker wäre das Maß der Trägheit, die Masse, ein Teilchen (Higgs-Boson mit Nobelpreis). Dümmer geht es nicht. Schon Theodor Fontane (1819 - 1898) beklagte: "Wir stecken bereits tief in der Dekadenz; das Sensationelle gilt, und nur einem strömt die Menge noch begeisterter zu, dem baren Unsinn." Wissenschaftler sind eben auch nur Menschen mit ihren mentalen Bedürfnissen. Nur wenige verstehen, was Wissenschaft wirklich ausmacht. Die meisten machen einfach nur mit. Hinweise durch W. Dittrich zur richtigen wissenschaftlichen Verwendung der Intelligenz finden Sie auf (II/10).
Personalie: Prof. Dr. techn. Dr. Ing. habil. Wolfgang Dittrich 19.06.1926 - 03.11.2019 +München

Zum Thema passend von W. Dittrich: Das Natürliche des Nichtverstehens  (ebenfalls veröffentlicht)


(Verzeichnis der einer besonderen Person gewidmeten Seiten)

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