Abdruck des vollständigen und originalen Wortlauts seiner Ansprache, vom Präsidenten mir persönlich zugesandt - s. (III/8c) Link unten  - Satz wie Vorlage MPG

MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT


Ansprache des Präsidenten Hubert Markl

anlässlich der 52. Ordentlichen Hauptversammlung der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

Berlin, am 22. Juni 2001

 

Freiheit, Verantwortung, Menschenwürde:
Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie

Die Ansprachen von Präsidenten vor Festversammlungen wie dieser pflegen einem recht vorhersagbaren Ritus zu folgen: Rühmen der Leistungen des vergangenen Jahres; Wecken der Begeisterung für verlockende Herausforderungen der Wissenschaft; Dank für die Unterstützung durch Steuerzahler, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; Klage über die bedauerliche Knappheit der verfügbaren Mittel, verbunden mit dem Appell an die Zuwendungsgeber, im nächsten Jahr höhere Steigerungsraten zu gewähren; Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit, insbesondere in der Europäischen Union und darum herum; das alles gewürzt mit einigen die Aufmerksamkeit wiedererweckenden Bonmots bzw. hilfsweise Zitaten: Da kann eigentlich nicht viel schief gehen.

Deshalb fühle ich mich verpflichtet, Sie zu warnen, dass meine Ansprache heuer ganz anders ausfallen soll als in den vergangenen Jahren. Nicht nur, weil es vor dem überleitenden Abgesang des nächsten Jahres meine letzte sein wird, - das auch; und auch nicht nur, weil Sie wirklich einmal Abwechslung verdienen, - das auch; sondern vor allem, weil sich zur Zeit in Deutschland und weit darüber hinaus, aber nirgends so grundsätzlich und erhitzt, eine weltanschauliche Auseinandersetzung über Natur und Wesen des Menschen, und daraus folgend über seine Rechte und Pflichten abspielt, die von profunder Bedeutung für das Selbstverständnis aller Menschen und die Grundlagen ihrer gemeinschaftlichen Lebensgestaltung ist. Dieser Auseinandersetzung, deren Reichweite weit über die eher begrenzt bedeutungsvollen Anlässe von Stammzellenforschung oder Präimplantationsdiagnostik hinausgeht, kann und darf sich der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft allein deshalb nicht entziehen, weil es dabei auch um die Grundsatzfragen der untrennbaren Verbindung von Freiheit und Auftrag von Wissenschaft und Forschung geht. Ich selbst will mich dem aber auch ganz persönlich nicht entziehen, weil ich als Biologe den damit verbundenen Problemen zu allerletzt ausweichen möchte.

Dabei kann es allerdings leider nicht ausbleiben, dass ich mich in dem einen oder anderen Streitpunkt nicht völlig in Übereinstimmung mit dem wiederfinde, was der Herr Bundespräsident in seiner beeindruckenden Grundsatzrede - manche sprachen gar von Levitenlesung - vom 18. Mai dieses Jahres dazu gesagt hat, obwohl ich vielen seiner Aussagen sehr zustimme. Glaube niemand, dass es mir leicht fällt, gleichzeitig den ökumenisch vereinten deutschen Bischofskonferenzen, den Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CDU, CSU und Grünen, dem biopolitisch gleichgeschalteten Gesamtbioethikrat deutscher Tageszeitungen, und dann sogar auch noch dem Bundespräsidenten zu widersprechen, als frecher Hecht im dicht an dicht besetzten Karpfenteich moralischer Hochgesinnung. Aber dann dachte ich an Harry Truman: "Who, if not you? When, if not now? Tomorrow you will be gone!" Glücklich ein Land, in dem ein einfacher Max-Planck-Präsident einem hochgeschätzten Bundespräsidenten öffentlich widersprechen darf, gleichsam von Bürger Markl zu Bürger Rau. Denn in Fragen von Gewissen, Moral, Freiheit, Verantwortung und Menschenwürde muss jeder Bürger sein eigener Experte sein und von der Freiheit der Meinungsäußerung nach bestem Wissen und Gewissen selbst Gebrauch machen.

Das alles bezieht sich selbstverständlich darauf, dass wir uns heuer wirklich mitten in einem Jahr der Lebenswissenschaften befinden. Wer könnte das noch verkennen? Nach der BSE-Krise, Stichwort: Tuet Buße, esst Grünzeug; nach MKS-Hekatomben-Brandopfern für die Agrarmärkte; nach Panik über Pflanzen mit Genen; nach Bedrohung der globalen Biodiversität; nach nicht nur schwarzafrikanischer HIV-Katastrophe; und dann auch noch Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen und Präimplantationsdiagnostik von Erbkrankheiten? Wie angenehm erscheint da manchem im Rückblick das Jahrhundert der Physik! Alles zusätzlich überwölbt von biogenen Medienspektakeln sondergleichen: als nämlich Craig Venter wie Moses vom Datenberg herabstieg, die mit 3,2 Milliarden Nucleotiden beschrifteten Festplatten in der Hand; und siehe da, das Volk tanzte zwar mit Jubelgesängen aller Feuilletons und Wirtschaftskommentatoren um das goldene Kalb, aber es war das entschlüsselte Genom selbst, um das es tanzte. Wen kümmerte es da noch, dass es nur teilentschlüsselt war und - wie sich nun herausstellt - in vielen Teilen auch noch nicht einmal ganz richtig? Die biotheologischen Übertreibungen konnten gar nicht groß genug ausfallen: Die Handschrift Gottes habe man entziffert, als sei's die neueste Auflage seines Neuen Testamentes. Nun ja, wenn die Bibel das Buch ist, in dem Menschen Gott beschrieben haben, dann liegt der Umkehrschluss für den nicht fern, der meint, dass die Gene die Schrift sind, in der Gott (oder die Natur) das Wesen des Menschen formuliert hat.

Ein Jahr der Lebenswissenschaften also wirklich, denn so viel bleibt von alledem doch richtig: Selten haben Biologen oder Mediziner in so kurzer Zeit so viel Neues über die Grundlagen des Lebens und über unsere Möglichkeiten, solches Wissen anzuwenden, gelernt. Und niemals zuvor hat eine so breite Öffentlichkeit zumindest soweit davon Notiz genommen, dass so viel Neues und Unverstandenes die ureigensten Privatentscheidungen von Essensauswahl bis Kinderwunsch, von Lebensversicherung bis Arbeitsplatz betrifft und daher alle gemeinsam angstvoll und hoffnungsvoll verunsichert. Da der rasche, auch für die Wissenschaftler selbst kaum überschaubare Fortschritt der Forschung diese Wechselgefühle von Angst und Hoffnung hervorruft, müssen wir diese Verunsicherung ernst nehmen und Verständnis dafür aufbringen. Mehr noch: Die kontroverse öffentliche Debatte darüber ist unumgänglich. Die sich manchmal überschlagenden Stimmen der Medien sind unvermeidlicher, sogar unverzichtbarer Teil einer öffentlichen, freien Auseinandersetzung mit den sich überstürzenden Neuerungen. Viele Befürchtungen werden sich als übertrieben herausstellen, viele Hoffnungen genauso.

Wir sollten uns auch nicht darüber wundern, wie groß das Verlangen vieler nach klaren Wegweisungen und Grenzziehungen ist, möglichst aus berufenem Mund und möglichst unbezweifelbar in ewigen Werten und Wahrheiten verankert. Der Wunsch danach ist einsichtig, aber er wird die Menschen von den Zweifeln und Mühen eigenen kritischen Urteils nicht befreien können. Kein noch so sorgfältig argumentierender Ethikrat, dessen Argumente wir übrigens doch erst einmal hören sollten, ehe wir sie gleich vorweg verdächtigen, kann uns davon befreien, uns selber in entscheidenden Fragen für eigenes Urteil kundig zu machen. Und wer mit gut gemeintem moralischen oder juristischen Machtwort die verwirrten Debatten beenden möchte, wird merken, dass sie gerade deshalb weitergehen. Denn wo ein jeder Mensch im eigenen Innersten berührt ist, da ist er letztlich selbst für seine Gewissensentscheidungen verantwortlich, solange wie wir in einer Gesellschaft leben, die darauf begründet ist, in der Gewissensfreiheit jedes einzelnen den Kern der Würde jedes Menschen zu achten. Letzten Endes geht es dabei immer darum: Was ist der Mensch? Die streitige Erörterung dieser Frage ist inzwischen so weit fortgeschritten - obwohl die Frage die Menschheit begleitet, seit sie sich ihrer bewusst geworden ist, - dass sich so mancher Lebenswissenschaftler bald nur noch in Begleitung eines Verfassungsjuristen und Moraltheologen ins Labor trauen wird; und wenn nicht ins Labor, dann jedenfalls in die Öffentlichkeit.

Bevor ich versuche, aus der Sicht des Biologen dazu einige Aspekte zu beleuchten, will ich jedoch noch einmal auf die Bedeutung des Begriffs der "Lebenswissenschaften" zurückkommen, der sich nur scheinbar als einfache deutsche Übersetzung des englischen Life Sciences in den öffentlichen Debatten weit verbreitet hat. Es ist nämlich vermutet worden, wir Biologen versuchten mittels solcher Begriffsverschiebung und -erweiterung das ganze Feld dessen, was Lebewesen tun oder hervorbringen - von Mikroben, Pflanzen und Tieren bis zum Menschen - als biologisches Erklärungsterritorium zu besetzen, sozusagen vom Faulschlamm bis zur Sixtinischen Madonna, wobei der bioevolutionäre Prozess natürlicher Lebenskreativität gleichsam lückenlos in den kulturevolutionären Prozess menschlichen Geschichtshandelns übergeht, so dass den Biologen wie Midas alles, was sie anfassen, durch den Zauberstab der Evolution zum Gold einer allgemeinen Lebenswissenschaft wird. Außerhalb der Lebenswissenschaften bliebe dann nur noch die Befassung mit dem Unbelebten übrig - Sterne, Steine, elektromagnetische Kräfte, Elementarteilchen oder chemische Reaktionen - während sich der große Magen der Biologie alles andere einschließlich aller Leistungen menschlicher Kulturen einverleibt, wobei wohlgemerkt ja selbst Astronomie, Physik, Chemie oder Mathematik als höchste geistige Leistungen des Lebewesens Mensch auch nur wieder zum Gegenstand lebenswissenschaftlicher Erklärung würden - Philosophie, Religion, Kunst und Ethik der Einfachheit halber gleich mit eingeschlossen.

Ich will nicht leugnen, dass es immer wieder Biologen mit solchen Allmachtsfantasien gibt, die aus dem Schichtenaufbau von Natur und Wissenschaft zugleich unausrottbar immer wieder neu erblühen, zumeist in den ebenso verbreiteten wie falschen Formulierungen, dass alles Leben Chemie sei, alle Chemie Physik, alle Physik Mathematik und alle Mathematik reine Philosophie, allseits wärmend vom mütterlichen Mantel der Theologie umhüllt. Aber man muss solche vollmundigen Ansprüche auch nicht ernster nehmen als sie es verdienen. Warum ich darüber hier überhaupt kurz reflektiere, soll nicht nur der Beruhigung unserer geistes- und sozialwissenschaftlichen Kollegen dienen. Für ihre Forschungsgebiete bleiben wir Biologen ganz sicherlich auch künftig viel zu ungebildet. Ich will vielmehr ganz nah am Thema, das die Öffentlichkeit derzeit so sehr bewegt, bleiben und an diesem Beispiel deutlich machen, zu welch unsinnigen Schlussfolgerungen es führt, wenn wir die Wurzeln mit einer ganzen Pflanze, die Fundamente mit einem Bau, die Voraussetzungen mit den Konsequenzen oder ganz drastisch das Ei mit dem Huhn verwechseln oder sogar in einen Topf werfen, wenn wir also, mit einem Wort, die Tatsache der evolutionären Emergenz neuer Phänomene leugnen oder missachten, die doch der wichtigste Ausdruck der schöpferischen Kraft der Natur ist, von der Entstehung der Gestirne bis zu der des Lebens, von der Entstehung der Arten bis zu der von Kultur und Geist. Die grundlegenden Voraussetzungen eines emergenten Phänomens mit dem Phänomen selbst zu verwechseln, führt zu einem oft zwar besonders logisch erscheinenden, aber an der Wirklichkeit regelmäßig zum Scheitern verurteilten Idealismus, Substantialismus, Essentialismus, Typologismus, oder Präformatismus, wie diverse Spielarten solchen Denkens immer wieder unter neuen Bezeichnungen auftreten. Das, woraus sich etwas neues entwickelt, ist nicht identisch mit dem Neuen selbst. Dies gilt auch für den Menschen. Jede geborene menschliche Person ist etwas einmalig Neues, das sich aus einer befruchteten menschlichen Eizelle entwickelt hat. Aber deshalb ist diese befruchtete Eizelle noch lange kein Mensch, jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich begründete Tatsache; allenfalls dann, wenn wir dem Begriff "Mensch" - und zwar durchaus willkürlich - eine ganz neue, andere Bedeutung als bisher zuweisen. Das hat damit zu tun, was wir sinnvollerweise, - d.h. lebenswirklichkeitsgerecht - meinen, wenn wir einem Lebewesen den Begriff "Mensch" zuordnen. Dies ist nämlich kein Etikett der Natur, sondern eine selbstbezügliche Redeweise von Menschen, deren Bedeutung nicht die Natur festlegt, sondern die sie selbst bestimmen. Ich muss mich, dies zugleich verdeutlichend, sofort korrigieren: Dies bezieht sich nicht einmal nur auf Lebewesen, denn selbstverständlich betrachten wir ein verstorbenes Mitglied der Menschengemeinschaft unverändert als wenn auch nicht länger lebenden Menschen und wir zögern keinen Augenblick, ihm Menschenwürde in der Form der Achtung vor der Würde eines Toten, eines toten Menschen nämlich, zum Unterschied von jedem toten Tier, zuzusprechen. Nichts könnte deutlicher machen, dass "Mensch" ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen ist und keine rein biologische Tatsache.

Zwar gehört jeder heute lebende Mensch biologisch zur Art Homo sapiens. Aber Menschlichkeit, Menschenwürde, ja recht eigentlich Menschsein ist mehr als dies Faktum, es ist eine kulturell-sozial begründete Attribution, die sich in der Begriffsbegründung zwar sehr wohl biologischer Fakten bedienen kann, ja muss, die sich aber in ihnen nicht erschöpft. Dies sehen wir deutlich bei der Zuordnung des Begriffs Mensch zu unseren biologischen Vorfahren. Schon die Abgrenzung der Spezies- und Gattungsnamenszuweisung gelingt nur mehr oder weniger willkürlich und zwar nicht wegen unzureichender Funde, sondern aus evolutionär zwingendem Grund, da wir Vorfahren und Nachfahren nun einmal nicht dem wesentlichen Unterscheidungskriterium biologischer Arten - der Unmöglichkeit fruchtbarer Fortpflanzung - unterwerfen können: Hier sitzt der Vater dieser Einsichten, Ernst Mayr, heute besonders passend, mitten unter uns. Noch viel weniger können wir aber der Zuordnung von Fossilfunden zu Arten oder Gattungen ablesen, ob nun erst Homo sapiens oder schon Homo erectus, Homo habilis oder vielleicht gar schon Australopithecus afarensis "Mensch" genannt zu werden verdienen. Vergessen wir auch nicht, dass es mit der bei Philosophen so geliebten, angeblich biologisch begründeten "Gattungseinheit" der Menschheit nicht sehr weit her ist: Jared Diamond hat nüchtern festgestellt, dass rein physisch, also genetisch betrachtet, Homo sapiens ganz gut als 3. Art einer Schimpansengattung eingeordnet werden könnte: Pan sapiens. Aber, eine Einsicht, die wir wieder Ernst Mayr verdanken, die Spezies Homo sapiens ist eben nicht nur biogenetisch, sondern durch ihr unvergleichlich anderes, emergentes kulturelles Leistungsniveau zu klassifizieren - der Mensch wurzelt zwar in seiner Biologie, aber er ragt zugleich weit aus ihr heraus. Deshalb kann sich seine Definition auch nicht in molekulargenetischen Tatsachen wie dem chemisch beschreibbaren Vorhandensein jener 3,2 Milliarden Nucleotiden bestimmter Reihenfolge in einer Zygote erschöpfen.

Wir wissen, dass, heute wie in der Vergangenheit, verschiedene Kulturen den Zeitpunkt des Beginns der Zuschreibung des Menschseins gegenüber dem sich entwickelnden Embryo oder Fötus sehr verschieden gewählt haben und noch wählen, selbst bei genauer Kenntnis der Tatsache, dass der Embryo seinen Entwicklungsanfang in der Vereinigung von Ei- und Samenzelle hat. Aus Gründen, die ich noch näher ausführen werde, finde ich dabei die Stellungnahme jüdischer Religionsgelehrter besonders überzeugend, einer Religion, der es wahrhaftig weder an Scharfsinn der Argumentation, wissenschaftlichen Kenntnissen, Gesetzestreue und Achtung des Lebens mangelt. Sie weist nämlich der Tatsache, dass sich der Mensch nur in engster Verbindung zu einem mütterlichen Körper entwickeln kann, eine besondere Bedeutung für die Menschwerdung zu. Um dem böse Interessen unterstellenden Gegenargument - mit einer solchen Feststellung würde der nicht in einen Uterus implantierte Embryo zum "Freiwild der Forscher" - sogleich zu entgegnen: Selbstverständlich hindert nichts daran, auch der nicht implantierten Zygote und dem nicht von der Mutter physisch wie psychisch aufgenommenen Embryo eine ganz andere Qualität, nämlich menschliche Qualität, im Sinne des Grundgesetzes also Menschenwürde, zuzusprechen, ganz analog zu dem, was ich eben zu toten Menschen sagte, und daher den Umgang mit Menschenembryonen anderen Normen zu unterwerfen als den mit Mäuseembryonen, z. B. einem strikten Begründungs- und Genehmigungsvorbehalt für jede forschende Verwendung. Mir kommt es nur darauf an, sehr nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass - selbst in heutigen Hochkulturen, die keiner moralischen Belehrung durch uns bedürfen, - dieser Akt der Zuschreibung des vollgültigen Menschseins mit allen Pflichten vorbehaltlosen Schutzes seines Lebens durchaus verschieden begründet wird. Dies ist auch unserer Rechtsprechung wie Lebenspraxis alles andere als fremd, sonst wäre nicht nur die nach langem Ringen weitgehend rechtsfriedliche Regelung von Abtreibungen, sondern vor allem auch die allgemein akzeptierte Verwendung von einnistungshemmenden Mitteln zur Geburtenkontrolle gar nicht möglich.

Ich weise auf diese Art der gesellschafts- und kulturabhängigen Zuschreibung des Menschseins mit allen Rechtsfolgen auch deshalb hin, weil der nach intensiver Vorberatung und ernster offener Debatte mit großen Mehrheiten in Unterhaus wie Oberhaus gefasste Beschluss des britischen Gesetzgebers, Forschung an und mit menschlichen Embryonen und mit Zellkulturen aus solchen Embryonen bis hin zum therapeutischen Klonen in den ersten zwei Lebenswochen unter sorgfältig zu begründenden und streng kontrollierten Bedingungen freizugeben, alles andere als die Verabschiedung Großbritanniens aus der abendländischen Wertegemeinschaft darstellt, so wenig wie bevorstehende ähnliche Regelungen in Frankreich und wohl bald auch anderen europäischen Ländern. Vielmehr handelt es sich dabei genau um jenen Vorrang politischer Entscheidungen vor partikularen gesellschaftlichen Forderungen, sei es von der Wissenschaft, der Wirtschaft oder von Weltanschauungsgruppen, den der Bundespräsident ganz zu Recht auch bei uns eingefordert hat. Selbstverständlich zwingt uns Deutsche nichts dazu, uns dieser britischen Parlamentsentscheidung anzuschließen oder jener Frankreichs, Israels oder anderer Länder, weil wir doch selbstverständlich alles besser wissen. Aber gerade in einer immer mehr zusammenwachsenden Gemeinschaft europäischer Nationen täten wir vielleicht doch gut daran, zu hören und abzuwägen, was die Argumente anderer abendländischer Nationen sind, die nicht weniger als wir in freien, demokratischen Rechtsstaaten leben, ehe wir gemeinsam mit dem Vatikan das Hochufer moralischer Letztbegründungen zu besetzen suchen. Selbstverständlich gilt für alle Wissenschaftler in Deutschland, dass sie sich streng und ausnahmslos an die Gesetze unseres Landes zu halten haben und an alle Verfassungsgebote, so wie sie die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes verbindlich, wenn auch, wie wir wissen, keineswegs unveränderlich, auslegen.

Dass dabei in Abwägung aller zu berücksichtigenden Interessen, Werte und Rechtsgüter am Ende, wie manchmal abschätzig gesagt wird, "willkürliche" Entscheidungen - wie jene der Dreimonatsgrenze in der Abtreibung - unvermeidlich sind, sollte bei genauerem Überlegen gerade als Ausdruck menschlicher Gewissensfreiheit und moralischer Verantwortlichkeit gesehen werden: Der Mensch ist eben gerade dadurch mit Menschenwürde begabt, dass er sich nicht Naturfakten - wie dem Zeitpunkt einer Zellkernverschmelzung - in seinen verantwortlich zu treffenden Entscheidungen zu unterwerfen hat. "Willkür" bedeutet dann tatsächlich nichts anderes als den Willen zur Urteilskraft und zur "Kür", d. h. zur Auswahl zwischen Entscheidungsalternativen. "Unwillkürlich" würde allenfalls das Tier ohne Entscheidungsfreiheit handeln, nur Instinkten oder physischen Zwängen unterworfen. Der Mensch ist nämlich das fast per definitionem zu Willkürhandlungen befähigte und verpflichtete Lebewesen, für die er verantwortlich abwägende und urteilende Entscheidungen treffen kann und muss.

Ich kann auch nicht umhin, mich in diesem Zusammenhang nicht nur zur "Freiheit eines Christenmenschen" - nämlich seinen Glaubensnormen entsprechend zu leben - sondern auch zur "Freiheit eines Nichtchristenmenschen" zu bekennen, denn wenn es um bioethische Entscheidungen geht, die insbesondere Beginn und Ende des Menschenlebens betreffen, dann muss der Gewissens- und Handlungsfreiheit des einzelnen selbst betroffenen Menschen - ob Christ oder nicht - in einer freien Gesellschaft ein hoher Rang eingeräumt bleiben. Damit ist nicht nur die Freiheit von Eltern, insbesondere von Müttern gemeint, sich, wenn Präimplantations- oder Pränataldiagnostik schwere Entwicklungsstörungen einer Leibesfrucht erwarten lässt, nach ärztlicher Beratung für oder gegen deren Austragen zu entscheiden. Mich schrecken dabei sozialethische Argumente der Art, es könnte die Stimmung in der Bevölkerung für oder gegen Behinderte beeinflussen, wenn es Müttern frei überlassen wird, solche schweren Entscheidungen zu treffen. Nicht nur deshalb, weil sich hier andere anmaßen, nach ihrem Gutdünken anstelle der Eltern und vor allem der Mütter zu entscheiden. Dabei wird nämlich verkannt, dass die allermeisten Behinderungen sowieso nicht angeboren sind und dass selbst von den angeborenen Fällen auch künftig sehr viele keineswegs früh erkannt werden können. An Behinderten wird es der Gesellschaft also bestimmt nicht mangeln. Mich schreckt am meisten der Geist erbarmungsloser Moral und zugleich des rechtlichen Zwanges auf betroffene Einzelne im Dienste vermeintlicher Gemeinschaftsinteressen. So als gehörten eine Frau und ihr Reproduktionsverhalten und sogar die dabei instrumentalisierten Behinderten zu allererst einmal dem Staat, der dieser Frau in von Mehrheitsmeinung abhängigen Grenzen Freiheiten hinsichtlich ihres ureigensten Menschenrechts, nämlich der Entscheidung über die eigene Fortpflanzung, einräumt oder versagt, und sie gegebenenfalls dazu zwingt, ein schwerst behindertes Kind sozusagen als Exempel für andere auszutragen und aufzuziehen. Je älter ich werde, umso falscher finde ich es nämlich, wenn alte Männer - wie ich - junge Männer gegen ihren Willen für den Krieg und junge Frauen gegen ihren Willen zur Fortpflanzung verpflichten wollen. Es mag schon zutreffen, dass Eltern keinen Rechtsanspruch auf ein gesundes Kind haben - allerdings sehr wohl ein Menschenrecht, danach zu streben! Aber ebensowenig gibt es wohl einen Rechtsanspruch einer Gesellschaft auf Zeugung und Geburt von Behinderten zum Ausweis ihrer moralischen Prinzipien! Ich will auch nicht verhehlen, wie irreführend mir in diesem Zusammenhang der Vergleich mit den mörderischen "rassenhygienischen" Zwangsmaßnahmen der Nazis erscheint. Wer den moralischen und rechtlichen Unterschied zwischen der Nichtannahme eines Embryos oder Fötus in eigener, gewiss nicht leichter Verantwortung der Eltern, und der zwangsweisen Ermordung behinderter Kinder oder Erwachsener im suggerierten Volksinteresse nicht erkennen will, könnte am Ende gerade dem Andenken an die Opfer des Nazi-Staatsterrors am wenigsten gerecht werden. Nichts anderes gilt im übrigen für die in freier Entscheidung erwünschte Sterbehilfe: Nur wer sich nicht als freier, selbstentscheidungs-berechtigter Staatsbürger, sondern als lebens- und bis zum Ende tributpflichtiges Staatseigentum begreift, kann akzeptieren, dass eine Mehrheit sich anmaßt, diese persönlichste aller Lebensentscheidungen staatlich zulassungspflichtig zu machen. Ich jedenfalls bekunde offen meinen Respekt vor dem niederländischen Parlament, das den hohen Wert der Freiheit des Menschen, über sich selbst zu entscheiden, recht eigentlich also seiner Menschenwürde, trotz aller Anfeindungen, mutig anerkannt hat.

Sie haben es längst erkannt, dass ich damit zwar als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, aber keineswegs verbindlich für die Max-Planck-Gesellschaft, also über in Gremien abgestimmte Stellungnahmen der Max-Planck-Gesellschaft, zu Ihnen spreche. Wenn nämlich meine Überzeugung zutrifft, dass in solchen bioethischen Fragen des Beginns und der Beendigung des Menschenlebens der gründlich erwogenen Gewissensentscheidung des Einzelnen gerade politisch mehr Gewicht zukommen muss, weil man über Gewissensfragen nicht abstimmen kann, dann kann es zu diesen Fragen auch keine bindende Meinung der Max-Planck-Gesellschaft oder der Mehrheit ihrer Mitglieder geben. Dafür muss ich schon als Einzelner mit all meiner irrtumsanfälligen Überzeugung geradestehen. Ich will dies besonders hervorheben, wenn ich mich als Biologe zur Frage des Lebensbeginnes äußere, weil es sicher viele Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft gibt, die dies, von mir sehr respektiert, anders bewerten.

Den Biologen muss ja schon die Form erstaunen, in der die Frage nach dem Lebensbeginn oft gestellt und beantwortet wird: Wann beginnt das Leben? Das Leben begann nämlich auf dieser Erde vor mehr als 3 Milliarden Jahren und hat sich seither in ununterbrochenem Strom fortgesetzt. Sie mögen dies in unserem Zusammenhang für eine unpassende Perspektive halten, denn es gehe ja um den Beginn des individuellen Menschenlebens. Ganz richtig, aber erstens wird das meist nicht so gefragt und zweitens führt dies leicht zu einer Überfokussierung auf den Akt der Gametenverschmelzung zur Zygote. Denn zweifellos sind Ei- und Samenzelle ebenfalls bereits lebendig, ebenfalls mit einem menschlichem Genom ausgestattet und ebenfalls genetisch jeweils ganz und gar individuell. Dies macht uns bewußt, dass es auf keines dieser Attribute allein entscheidend ankommt, sondern auf die Entwicklung, die Epigenese eines neuen Menschen, die allerdings erst mit der Zygotenbildung ermöglicht, aber keineswegs durch sie abschließend determiniert wird. Denn der neue Mensch ist nicht fertig in der Zygote, wie es ein fast schon vorwissenschaftlich präformatorisches Denken manchmal hinstellt; er kann aus ihr werden und zwar nur unter bestimmten Bedingungen, für die die Verbindung zum Mutterorganismus für Säugetiere nicht etwa nur so etwas wie die eines Untermieters in einer Biowohnung, sondern für eine normale Entwicklung absolut konstitutiv ist.

Ich habe diesen Punkt aus anderer Sicht schon kurz berührt. Er hat biologisch jedoch weiterreichende Bedeutung. Für eine Säugetiermutter (und in solcher Hinsicht ist und bleibt der Mensch ein Säugetier) bedeutet die Aufnahme eines Embryos in die symbiotische Wechselbeziehung mit ihr eine für den gesamten Lebenserfolg ungemein folgenreiche Entscheidung, weil sie - im Falle widriger Umstände - ihre Leibesfrucht nicht etwa wie eine Vogelmutter ihre Eier verlassen kann. Für langlebige Spezies wie die unsere mit nur wenigen Chancen, überhaupt Nachkommen aufzuziehen, ist diese Entscheidung daher besonders lebensentscheidend. Es darf daher sehr wohl angenommen werden, dass die von Menschen und anderen Säugetieren bekannte Tatsache, dass sich nur ein Bruchteil befruchteter Eier tatsächlich im Uterus einnisten kann - beim Menschen wird berichtet, dass mehr als jede zweite Leibesfrucht durch spontanen Frühabort verloren geht, - schon von Natur aus dazu dient, um möglichst nur gesunde und voll entwicklungsfähige Keime zur Entwicklung kommen zu lassen. Die eigentliche "biologische Entscheidung" zur Menschwerdung fällt daher tatsächlich mit der Einnistung des Keimes im Uterus, nicht schon mit der Befruchtung. Dies wird besonders deutlich daran, dass die spontan frühabortierenden Embryonen besonders häufig von genetischen Anomalien betroffen sind. Wer sich zum Beispiel schon einmal gefragt hat, warum eigentlich fast nur die Trisomie 21 als krankheitsbedingende Einzelchromosomen-vermehrungsanomalie beim Menschen vorkommt, und darin gar ein zwar schweres, aber gezielt gottgewolltes Schicksal erkennen will, sollte vielleicht doch zur Kenntnis nehmen, dass die meisten anderen Trisomien von Einzelchromosomen durchaus auch vorkommen, aber eben dann genauso gottgewollt, oder vielleicht doch zufällig entstanden und rechtzeitig natürlich ausgelesen, spontan im Mutterleib absterben. Ich meine, dass solche Tatbestände bei der Bewertung der manchmal - aus genannten Gründen durchaus irreführend, wenn nicht gar böswillig - mit Nazirampenseektion von Kindern und Erwachsenen gleichgesetzten Präimplantationsdiagnostik schwerer genetischer Leiden nicht unbeachtet bleiben sollten.

Zwar kann selbstverständlich zur Vermeidung eines naturalistischen Fehlschlusses das "Ist" der natürlichen Selektion von genetisch schadhaften Keimen im Mutterleib nicht zu einem "Soll" für die Auswahl in vitro umgedeutet werden. Aber es entspricht durchaus einer konsistenten Argumentation in der Begründung menschlicher Verantwortung und menschlicher Kultur, dass der im Laufe seiner Evolution zu Freiheit von Urteil und Handeln aus genetischem Naturzwang entlassene Mensch tun kann, was die Natur im Tierreich sonst durch genetisches Programm erledigt, wenn er es so richtig findet. Im Gegenteil will es mir scheinen, als ob die alleinige Fixierung des Menschenwesens auf den Besitz eines Satzes menschlicher Gene (von denen wir zudem auch noch einen sehr hohen Prozentsatz mit vielen anderen Tieren identisch gemeinsam haben) und die als hochmoralisch bewertete willenlose Hinnahme jedes Zufallsunglücks in der Beschaffenheit dieses Gensatzes, den Gipfel eines Biologismus bedeutet, der den Menschen tatsächlich zum reinen Biowesen degradiert und ihm genau das abspricht, was ihn eigentlich erst zum Menschen macht: Seine kulturbedingende Entscheidungsfreiheit.

Wenn dies der Rubikon wäre, den nicht zu überschreiten uns Weisheit riete, dann hieße es für mich genauso viel, wie Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen zu entsagen und sich blind hoffend und leidend dem Naturgeschehen auszuliefern. Eine solche Haltung kann ich nicht einmal gottergeben finden, selbst wenn sie uns von christlichen Lehrämtern nahe- oder gar auferlegt wird, denn mir kann kein Gottesverständnis einleuchten, das nicht zu allererst anerkennt, dass der Mensch ein Wesen mit Fähigkeit und Pflicht zur selbstverantwortlichen Lenkung der eigenen Geschicke ist, mit jener Einsichtsfähigkeit, jenem Erfindungsreichtum und jener Willenskraft, die es ihm erlaubte, sich über Jahrhunderttausende hinweg immer mehr von den Schicksalszwängen der Natur zu befreien. Dies genau sind die Eigenschaften, die ihn zu Wissenschaft, Forschung und technischer Erfindungsgabe befähigen und deshalb ist die Notwendigkeit und Freiheit der Erkenntnissuche zur Bewältigung seiner Lebensprobleme durch Forschung und Entwicklung neuer Erfindungen nicht Ausdruck der Fortschrittshybris verblendeter Wissenschaftler, sondern unverzichtbarer Teil unserer Menschlichkeit und Menschenwürde. Forschungsfreiheit ist keine gnädig gewährte politische Gabe des Staates an die Wissenschaftler, sondern Voraussetzung dafür, dass Kultur und Staat überhaupt zu existieren vermögen.

Der Bundespräsident hat uns Wissenschaftler sicherlich zurecht davor gewarnt, aus Forschungsgläubigkeit, unbändiger Erkenntnisneugier oder Machbarkeitsgelüsten die ethischen Schranken unseres Forschens zu missachten. Ich gebe ihm darin uneingeschränkt recht. Ich habe mich vor wenigen Tagen für die damals aktiv oder passiv schuldig gewordenen Mitglieder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft bei Opfern irregeleiteten biomedizinischen und rassistischen Forschungswahns für das moralische Versagen deutscher Forscher entschuldigt und habe sie um Vergebung gebeten. Ich bestehe aber darauf, dass zwischen den Untaten von Wissenschaftlern in einem Terrorregime unter dem Vorwand wissenschaftlicher Erkenntnissuche gegenüber gepeinigten und ermordeten Kindern und Erwachsenen und dem Vorgehen von Forschung und Medizin bei der Präimplantationsdiagnostik, bei therapeutischem Klonen oder bei der Entwicklung von Heilverfahren gegen schwere Krankheiten mittels Zellkulturen aus Embryonen kategoriale Unterschiede bestehen. Ich sähe in der unangebrachten Gleichsetzung des einen mit dem anderen geradezu eine Verniedlichung der Leiden der Opfer von bestialischen Menschenversuchen, weil es sich dabei für jedermann unstreitig um missbrauchte und erniedrigte bewusstseins- und leidensfähige Menschen handelte, während es keinen naturgesetzlich logischen Zwang gibt, der uns verpflichtet nur deshalb einem wenigzelligen menschlichen Embryo, dessen Würde durchaus zu achten ist, den vollen Status einer menschlichen Person zuzuschreiben, weil eine solche in Wechselwirkung mit einem mütterlichen Organismus daraus zu werden vermag.

Ich habe dies alles nicht nur deshalb so ausführlich dargelegt, weil es mich selbst sehr bewegt, sondern weil ich zugleich verdeutlichen wollte, aus welchen Gründen ich als Mitglied des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft der jüngsten Stellungnahme der DFG zur Stammzellenforschung aus voller Überzeugung zugestimmt habe. Die Max-Planck-Gesellschaft ist eine Mitgliedsorganisation der DFG, und somit hat die DFG ihre Empfehlungen auch im Namen der Max-Planck-Gesellschaft abgegeben, wie ich ausdrücklich bestätigen möchte. Selbstverständlich bindet diese Feststellung nicht die einzelnen Mitglieder der MPG, dies so richtig zu finden. Aber ich weise darauf hin, dass die Empfehlungen der DFG auch unter leitender Mitwirkung von wissenschaftlichen Mitgliedern der MPG zustande gekommen sind. Ich halte die DFG-Empfehlungen für in der Sache wohlbegründet, im empfohlenen Vorgehen maßvoll, in den vorgesehenen Schritten weiterer Forschung für angemessen, und ich möchte mich bei dem Präsidenten der DFG ausdrücklich dafür bedanken, dass er die Prügel der Öffentlichkeit - bis hin zu persönlich beleidigender Verunglimpfung - tapfer für alle Mitglieder der MPG mit ertragen hat. Ich halte auch den Vorwurf, es sei heuchlerisch, embryonale Stammzellen, aus denen keine Embryonen mehr gezüchtet werden können, und an deren Herstellung deutsche Forscher nicht beteiligt waren, wie vom Embryonenschutzgesetz nicht verboten, zu importieren und daran zu forschen, während die Herstellung solcher Zellen aus verwaisten Embryonen bei uns nicht gestattet ist, nicht für zutreffend. Denn der politischen Forderung, es müsse sich erst erweisen, ob solche Stammzellen tatsächlich ein hohes therapeutisches Potential haben, ehe man an eine Lockerung des Embryonenschutzgesetzes denken könne, kann doch nur dadurch entsprochen werden, dass an andernorts bereits vorhandenen, aber nicht mehr zu Embryonen entwicklungsfähigen Zellkulturen geforscht wird. Dass beim Parlament und nur bei ihm die Entscheidung liegt, ob und wann das Embryonenschutzgesetz geändert werden soll, versteht sich von selbst. Wissenschaftler können nur die Gründe angeben, die aus medizinischer Forschungssicht dafür sprächen. Ich möchte dabei übrigens mit Nachdruck betonen, dass eine nur der Erkenntnissuche verpflichtete (wie es oftmals gehässig heißt: "von Forscherneugier motivierte") Grundlagenforschung ganz und gar nicht auf Forschung an Menschenembryonen angewiesen ist. Was sie über die Entwicklung des Säugetierorganismus zu erforschen sucht, kann sie viel besser an Mäusen oder anderen Versuchstieren erarbeiten. Es sind also ausschließlich medizinisch-therapeutische Forschungsziele zur Heilung schwer erkrankter Menschen, die in der Güterabwägung für oder gegen Forschung mit menschlichen Embryonen vorgebracht werden können und von Gesetzgeber und Verfassungsgericht abzuwägen sind. Selbstverständlich wäre die Nutzung gewebespezifischer Stammzellen gegenüber der Nutzung embryonaler Stammzellen vorzuziehen, aber das setzt voraus, dass sie die gleichen therapeutischen Möglichkeiten eröffnen wie diese.

Dies war gewiss eine etwas ungewöhnliche Festansprache für eine Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft. Eigentlich hatte ich mir nämlich vorgenommen, darüber zu sprechen, welche Rolle die Rechtswissenschaften im Verbund der Max-Planck-Forschung spielen. Andererseits stehen die Rechtswissenschaften bekanntlich immer mitten im Leben, ordnend, Freiräume sichernd und begrenzend. Sie stehen mit ihrem Wirken also auch mitten in den Lebenswissenschaften, so wie ich sie heute betrachtet habe, untrennbar verbunden mit der Bewertung von Freiheit und Verantwortung der Forschung, mit Menschenwürde und Menschenrechten, mit Schutz der leidensfähigen Kreatur wie mit dem Schutz der Güter der Biosphäre und mit den Eigentumsrechten, die zu ihrer Nutzung berechtigen. Insbesondere die schwierigen Fragen von Eigentumsrechten an Erfindungen, die Bestandteile lebender Organismen betreffen, fordern heute die Rechtswissenschaften in besonderem Maße heraus. Es ist daher nicht von ungefähr, dass sich die Max-Planck-Gesellschaft derzeit bemüht, im Verbund mit der Ludwig-Maximilians-Universität und mit der Technischen Universität München aus ihrem traditionsreichen Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht ein Munich Center for Intellectual Property Law zu entwickeln, das in enger Wechselwirkung mit dem deutschen und dem europäischen Patentamt und dem Patentgerichtshof zu einem Schwerpunkt internationaler Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet werden soll. Und es ist auch nicht von ungefähr, dass sich unsere junge Projektgruppe für das Recht der Gemeinschaftsgüter in Bonn, aus dem hoffentlich bald ein auf längere Dauer angelegtes Max-Planck-Institut wird, insbesondere dem rechtlichen und institutionell implementierenden Umgang mit solchen Gütern widmet, die die Biosphäre oder die Gesellschaft uns allen gemeinsam sozusagen kostenfrei zur Verfügung stellt. Es ist gewiss auch nicht ohne Grund, dass ausgerechnet ein Wissenschaftliches Mitglied unseres Institutes für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, das zugleich Vizepräsident der DFG ist, Prof. Wolfrum, maßgeblich an der Formulierung eben jener Empfehlungen zur Stammzellenforschung mitgewirkt hat, die den allzu eingeengt- deutschen Blick auf diese Fragen vermeiden und die Rechtsentwicklung in Europa wie im außereuropäischen Ausland klar im Auge behalten. Dass unsere Institute für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, für Sozialrecht in München, für Privatrecht in Hamburg und für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main in den vergangenen Jahren nolens volens alle auch über Rechtsfragen aus dem Bereich der Lebenswissenschaften gearbeitet haben, - von Partnerschaftsverhältnissen von Homosexuellen bis zu Abtreibungsregelungen, von den demographischen Konsequenzen für Sozialversorgungssysteme bis zur Rechtsgeschichte im biorassistisch verseuchten Dritten Reich, - das versteht sich fast von selbst. So eng waren die Beziehungen zwischen Biologie und Rechtswissenschaft wohl noch nie. Dies unterstreicht nur noch einmal, dass die Lebenswissenschaften heute weit mehr sein müssen als Biologie. Was immer ich heute über Freiheit und Verantwortung des Einzelnen wie vom gesellschaftlichen System Forschung gesagt habe, so sehr es auch die Handschrift des Biologen Markl getragen haben mag, es wäre argumentativ undenkbar gewesen ohne die Abwägungen, die erst eine wissenschaftlich begründete Rechtskultur dem tumben Naturwissenschaftler erschließt. Aber natürlich habe ich alles, was ich dazu sagte, unter dem Vorbehalt des zwar um Klärung bemühten, aber gerade dabei immer irrtumsanfälligen Naturwissenschaftlers gesagt, ich hoffe allenfalls im entschuldbaren Verbotsirrtum.

Natürlich hätte ich gerne auch über die immensen Forschungsleistungen unserer mehr als 3.000 Wissenschaftler zusammen mit vielen Tausenden von Gastforschern, Forschungsstudenten und Technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im letzten Jahr gesprochen. Aber darüber geben Max-Planck-Forschung/ Max Planck Research, Jahresbericht, Jahrbuch und zahllose Presseberichte weit bessere, umfassendere Auskunft. Natürlich hätte ich gern dafür gedankt, dass uns eine solide Finanzierungsbasis durch Bund und Länder und von gutherzigen Stiftern diese Forschungsleistungen ermöglichten, und darauf hingewiesen, dass wir leider noch viel mehr exzellente Forschungsideen aus Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen nicht verwirklichen konnten. Und selbstverständlich hätte ich gerne begründet, warum wir im nächsten Haushaltsjahr deutlich verstärkte Mittel benötigen, um unsere 80 Institute, die bereits auf fast 20 angewachsene Zahl der gemeinsam mit Universitäten eingerichteten International Max Planck Research Schools, die zahlreichen Verbundprojekte zwischen Instituten und mit Universitätskollegen, die neu einzurichtenden Max-Planck-Forschungsgruppen in Universitäten und ein neues Institut für vaskuläre Biologie in Münster ausreichend finanzieren zu können. Ich hätte gern auf die weiter gewachsenen Probleme der Gewinnung erstklassiger Forscher aus dem In- und Ausland hingewiesen, vor allem auch von Wissenschaftlerinnen, und ich hätte gerne von einer Vorverhandlung über die Berufung eines US-Wissenschaftlers, von einer Mittelwestuniversität, keineswegs Ivy League, berichtet, der mir fast bedauernd mitteilte, dass er zur Zeit brutto mehr als das Doppelte dessen verdiene, was ich ihm maximal anbieten könnte - von dem neuen Steuersenkungsprogramm von Präsident Bush noch gar nicht zu reden. Es hätte also schon noch vieles zu besprechen gegeben, aber es schien mir, als ob das Jahr der Lebenswissenschaften, außer den vielen schönen Forschungsjubelinszenierungen, auch einen kritischen Blick auf unsere Bereitschaft erforderte, Freiheit und Verantwortung der Forschung wirklich als integralen Ausdruck unserer Menschenwürde zu begreifen und nicht etwa die Rede von der Menschenwürde als etwas, was einer verantwortungslos dahineifernden Forschung erst einmal Mores beibringen muss.

Gewiss, es gibt verantwortungslose Menschen in der Forschung und unsere Neuerscheinung über "Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft" soll die Wege aufzeigen, wie dem energisch entgegenzuwirken ist. Aber die große Mehrzahl der Forscher strebt nicht nur besinnungslos nach Erkenntnis oder Profit oder beidem: Die meisten wünschen sich vielmehr, dass das, was sie erforschen, zum Nutzen der einzelnen Menschen wie der Gesellschaft und der Umwelt wirkt, und sie sind überzeugt davon, dass ihr Forschen dazu beitragen kann. Dies treibt sie vor allem an, und keine Allmachts- oder Frankenstein-Fantasien.

Es lag mir sehr am Herzen, zu verdeutlichen, dass der Rubikon kein Fluss ist, jenseits dessen das Böse lauert; denn das Böse ist, wenn schon, dann längst immer mitten in uns. Der Rubikon ist vielmehr ein Fluss, dem der Mensch ständig selber ein neues Flussbett bahnen muss, weil er das Vertraute vom Unerschlossenen trennt, und den wir deshalb nur wohlbedacht und mit Verantwortung für unser Handeln überschreiten sollten. Aber wir sollten auch nicht vergessen: Rom liegt auch künftig jenseits des Rubikon und Caesar hat ihn erfolgreich überschritten. Denn der Mensch ist seit jeher ein Wesen, das seine Grenzen überschreiten muss, um ganz Mensch zu sein und das sich dabei dennoch immer neue Grenzen setzen muss.



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