Das Gehirn und sein Ich

Eine notwendige Klärung


veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 2/1996


Inhalt:
Das Jahrzehnt des Gehirns
Der Königsweg: sich vom Gehirn nicht bluffen lassen
Der Attributationsmechanismus - die Methode mit Nichtwissen umzugehen
Konfusion auch in der Biologie
Wozu tierische Lebewesen ein Gehirn brauchen
Die sekundären Qualitäten
Die Genese des Wissens
Die Genese von Gefühl und Geist
Die 9. Kränkung des Menschen (nach Vollmer)

Jürgen Krüger zur Gehirnforschung:
"Da lacht sich das Gehirn ins Fäustchen.
Es ist dasjenige Organ, das die Erforschung seiner eigenen Leistungsfähigkeit,
mittels eben dieser Leistungsfähigkeit bestmöglich zu verhindern weiß."
Und warum tut es das?
Um ungestört Plausibilitäten als "objektive Wahrheiten" verkaufen zu können.

Das Jahrzehnt des Gehirns

Am 25. Juli 1989 hat Präsident Bush mit der Resolution 174 das letzte Jahrzehnt dieses Jahrtausends als "Jahrzehnt des Gehirns" (the decade of the brain) ausgerufen, weshalb zur Halbzeit von vielen Forschern und Publizisten eine Zwischenbilanz versucht wird (s. hierzu meine Besprechung des Buches von Ernst Pöppel/Anna-Lydia Edingshaus "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" in "Aufklärung und Kritik" 1/1996, abgedruckt in der vorhergehenden Datei II/6). Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL hat in seiner Ausgabe 16/1996 diese Zwischenbilanz zur Titelgeschichte "Die Suche nach dem Ich" verkürzt, in der sich schon viel Ernüchterung über die Rolle des eitlen Ego breit macht. Ich denke daher, daß es Zeit ist, das Ich als einen Ableger des Gehirns zu begreifen, das ihm beschränkte Befugnisse einräumt, es zugleich aber darüber im Unklaren läßt - eine Richtung, in die viele Forschungsergebnisse weisen. Zugleich sind es aber die Forscherhirne selbst, denen an einer rückhaltlosen Aufklärung der interpretierenden Fähigkeiten des Gehirns nicht gelegen ist, um den Anspruch der Wissenschaft, objektiv zu sein, nicht zu untergraben, was gerade in dem besprochenen Buch deutlich zu erkennen ist. Die hauptsächlich angewandte Verdunkelungsstrategie besteht darin, die entscheidenden Erzeugnisse des Gehirns als objektive Bestandteilen der Außenwelt zu behandeln, wodurch die Wichtigkeit und die Leistung des Gehirns minimalisiert wird. Ich denke dagegen, daß gerade die rückhaltlose nüchterne Aufklärung des wahren Verhältnisses beider, gegen die sich das Gehirn heftig wehrt, das Ich in seiner Kompetenz stärken könnte. Für die Wissenschaft heißt das: Wir müssen lernen, daß es kein objektives Wissen gibt. Aber gerade das Wissen um unser Nichtwissen, das die Quelle der Weisheit ist, setzt uns in die Lage, unser Wissen zu objektivieren und aus unseren Möglichkeiten für unsere Zukunft das Beste zu machen. Sonst bleiben wir nur der Affe unseres tierischen Erbes. Das Gehirn und sein Ich - ein Trauerspiel, eine Göttliche Komödie oder ein Satyrspiel, bei dem ein Happy End möglich ist? Versuchen wir dies zu klären.


Der Königsweg: sich vom Gehirn nicht bluffen lassen

Um "the decade of the brain" doch noch zu einem glücklichen Ende zu bringen, habe ich daher schon seit längerer Zeit ein eigenes Forschungsprogramm aufgelegt, an dem sich jeder Interessierte beteiligen kann, gehört doch zu jedem Ich ein Gehirn oder umgekehrt, was eben zu klären ist. Mit Fördermitteln des Bundes oder anderer "Töpfe" kann jedoch leider nicht gerechnet werden, obwohl wir sie sicher gut brauchen könnten. Um nun Herr im eigenen Haus zu werden, muß das Ich dem Hirn zuerst einen heftigen Schock versetzen, indem es ihm auf den Kopf zusagt, daß es objektiv nichts weiß, sondern daß es nur mit Plausibilitäten operiert, wie bei der These der Epistemologen, daß wir über die Natur so viel wissen, weil wir ein Teil von ihr sind. Diplomatisches Herumgerede, um die Eitelkeit des Gehirns nicht zu kränken, bringt da nichts. Und wer meint, er müßte sich erst mit Gott oder einer anderen Autorität besprechen, ob er sich so eine radikale Ansicht leisten kann, spricht auch immer nur mit einem Gehirn, das sich gottähnlich aufführt, um sich durchzusetzen. Der ganze Denkkomplex eines persönlichen Gottes ist wohl ein Gehirnkomplex. Unmittelbar zu erkennen gibt sich die eingeborene Autorität, wenn religiösgestimmte Menschen aus dem Unbewußten auftauchende Intuitionen als "Eingebungen Gottes" bezeichnen oder wenn sie sagen, daß ihnen "Gott", gewissermaßen von Person zu Person, etwas befohlen hat. Das Ich ist zuerst wohl einfach die Folge davon, daß das Hirn im Wachzustand zu allen seinen ständigen antagonistischen Unterscheidungen wie "gut" und "böse" zugleich auch die von "selbst" und "nichtselbst" macht. Es läßt dabei auch das Ich berühmter Neurologen glauben, daß es sich um "sein Gehirn" handelt. Wenn dann zur "Erklärung" dessen, wo das Ich denn plötzlich herkommt, "Gott" bemüht wird, dann ist dies sogar eine richtige Antwort, wenn man weiß, wie im Sinne des Gehirns der persönliche Gott zu verstehen ist. So gesehen, ist das Gehirn sogar unheimlich ehrlich, wenn man sein Vokabular versteht. Doch hält das dominierende übermächtige Unbewußte das Bewußtsein an der kurzen Leine und gibt ihm nur dann für wenige Momente einen Entscheidungsspielraum über ihm aufgezeigte Alternativen, wenn es dies selbst für angebracht hält, weshalb das eitle Ich sich gleich auch noch im Besitz der Willensfreiheit wähnt. (Was durch Fehlentscheidungen schief geht, schiebt die eingeborene Autorität - zu ihrer Entlastung - hartnäckig auf den angeblich so freien Willen, wodurch es zu Schuldkomplexen kommt, von denen die gut leben, die sich ihrer annehmen, weshalb auch von dieser interessierten Seiten nicht mit Aufklärung zu rechnen ist.) Wäre unser Wissen nicht nur plausibel und opportun, dann müßte das Hirn uns sagen können, wie es in den Besitz der objektiven Wahrheit gekommen ist und woran sie erkannt werden kann, worüber es sich aber bis heute (ehrlicherweise) ausschweigt. Wie viele mehr oder weniger kunstvolle "Theorien der Wahrheit" wurden schon vor, durch und nach Tarski verschlissen!

Aber nur die These, daß das Gehirn kein objektives Wissen besitzt, bedarf keiner Begründung, weil sie ja nichts voraussetzt. Und gerade dann - weil wir uns selber nichts vormachen - können wir uns in seine Lage versetzen und seine große Leistung verstehen.

Wie der ganzen Evolution stand dem Hirn nämlich auch immer nur die Methode "Versuch und Irrtum" zur Verfügung, wobei die unbrauchbaren Vorschläge von der Wirklichkeit ggf. gleich mit dem Gehirnträger selbst selektiert wurden, weshalb es hinterher so glänzend dazustehen scheint. Man kann sagen, die zweckmäßigsten Hypothesen haben mit ihren Trägern überlebt, aber wir wissen immer noch nicht, an was sie erkannt werden können, außer die unzweckmäßigen am Desaster, wie jetzt beim Untergang des Kommunismus. Das Ich hätte zwar noch die Logik als Hilfe. Doch wenn die Prämissen nicht stimmen, hilft auch die beste Logik nichts, weshalb sie oft genug nur eingesetzt wird, um Vor-Urteile abzusichern oder unangenehme Sachverhalte zu verschleiern. Auch der Einsatz der Mathematik, als die Logik der Quantitäten, führt nur dann zu richtigen Ergebnissen, wenn die verwendeten Prämissen stimmen - doch niemand ist da, der uns die Richtigkeit unserer Prämissen garantieren kann. Daher ist kein logischer Kalkül geeignet, den kritischen Geist zu ersetzen.


Der Attributationsmechanismus - die Methode mit Nichtwissen umzugehen

Einer der erfolgreichsten (und folgenreichsten) Tricks des Gehirns, sein Nichtwissen über die Welt zu überbrücken, ist der, von sich auf andere zu schließen. Sich kennt man, das andere nicht, also hält man sich an das Bekannte. Darum hat diese Methode den größten Grad von Plausibilität. Mensch und Tier benutzen sie tagtäglich. Nicht nur die Katze jagt einem welken Blatt hinterher, mit dem der Wind spielt, weil es sich für Momente wie etwas Lebendiges verhält, um das es der Katze geht. Pöppel spricht in seinem Buch "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" da einmal ganz verschämt vom "Attributationsmechanismus" (S.204), mit dem Belebtes und Unbelebtes vom Hirn gleichermaßen überzogen wird. Der Attributationsmechanismus versucht, alles nach Art des Lebendigen, beim Menschen möglichst auch noch nach menschlicher Weise zu verstehen. Jeder hat schon vom Animismus gehört, der jedoch keineswegs einer grauen Vorzeit angehört. Nichteinmal die Wissenschaft ist von ihm verschont, wie ich gleich noch zeigen werde. Für einen Beutegreifer jedoch, der seinerseits (Freß-)Feinde hat, ist die auf sich selbst bezogene Analogie "was ich denk' und tu, das trau ich jedem anderen zu" eine erfolgreiche Strategie, kommt es ihm doch vor allem auf das Lebendige an, darum wird er sich auf sie verlassen, auch wenn mal ein welkes Blatt ihn genarrt hat. Weil die Menschen ihre beutegreiferischen Instinkte noch längst nicht abgelegt haben - man sehe sich nur ihre Geschichte bis zum heutigen Tage an, - sind für sie auch physikalische Körper im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung", je nachdem, ob sie sich als ortsfest oder als ortsveränderlich zeigen. Daher fanden es selbst die Spitzen des europäischen Geisteslebens nicht unter ihrer Würde, jahrhundertelang darüber zu streiten, ob sich die Erde oder die Sonne "bewegt" oder "stillesteht", obwohl beide Körper rein physikalischer Natur sind und keine Bewegungsorgane haben, um dieser Frage einen objektiven Sinn geben zu können. Im Gegensatz zu einem Lebewesen, das in der Regel seine Muskeln spielen lassen muß und dabei Energie verbraucht, um sich im Zustand der Bewegung zu erhalten, ist ein natürlicher unbelebter Körper, trotz seiner "Bewegung", für sich selbst in absolut nichts von einem "ruhenden" unterschieden - darum ist es ja möglich, über die Bewegungsfrage endlos zu streiten. Für die Grundgesetze der Physik spielt es daher keine Rolle, ob Körper von uns als im Zustand der "Ruhe" oder der "Bewegung" angesehen werden, da dies nur Wertungen des Beobachters sind, wenn er sie zu einem von ihm als solchen angesehenen Fixpunkt taxiert. Aus diesem Grund gilt Newtons 1. Axiom für beide Zustände gleichermaßen, wie es in ihm auch ausdrücklich heißt, was man jedoch bis heute geistig nicht realisiert hat. Wie das Kino seit über 100 Jahren beweist, ist die Bewegung ein Eindruck, der im Kopf des Zuschauers entsteht, gänzlich unabhängig davon, ob die Bewegung eine reale Eigenschaft des Bewegten ist, wie bei Lebewesen oder Maschinen, oder ob ein physikalischer Körper infolge seiner Ortsveränderung lediglich bewegt erscheint (das Problem von Sein und Schein!). Das Bewegungsproblem der Physiker ist ihr Problem mit dem falsche Erwartungen erzeugenden Attributationsmechanismus und nicht mit dem physikalischen Gegenstand, der von ihrer biomorphen Denkkategorie "Ruhe und Bewegung" und den mit ihr verbundenen Fragen und Antworten überhaupt nicht berührt wird, wie schon die Vorsokratiker "Parmenides und Melissos und ihre Anhänger" - Sein und Schein unterscheidend - klar zu machen versuchten, die darob von Aristoteles getadelt wurden. Die Bewegung - das Phantom der Physik.


Konfusion auch in der Biologie

Das gleiche, dem Sachstand unangepaßte Denken finden wir auch in der Biologie. Während die überragende Bedeutung der Gene diese immer mehr in den Mittelpunkt der Forschung rückt, argumentieren viele Forscher so, als käme es in der Evolution nicht auf die Gene sondern auf die "Anpassung" an. Hier hat der Wissenschaftler die eigene Weise des Denkens und Handelns - dank Voraussicht und Vernunft, Istwerte den Sollwerten annähern zu können - auf die lebendige Natur übertragen. Wiederum macht er sie sich durch Projektion zuerst unbewußt ähnlich, wodurch er hernach glaubt, ihre Arbeitsweise zu verstehen. Die Deutung der Evolution als Vorgang der Anpassung ist ratiomorph. Aber die Natur ist blind und kennt keine Ziele. Nur weil mißlungene Lebensformen schnell untergehen, macht das Ergebnis der Selektion den Eindruck von Vernünftigkeit. Doch die Evolution selbst ist nicht anpasserisch sondern die Gene verändern sich allein schon aufgrund ihrer eigenen Ressourcen (Gendrift), während äußere Eingriffe eigentlich Störungen sind. (Der Vorgang der Evolution ist keiner der "Anpassung" sondern der "Verzweigung". Das Ergebnis ist der Stammbaum der Arten.) Wenn schon erworbene Eigenschaften am Erbgut nichts bewirken, können selektierte Eigenschaften es erst recht nicht. Sie sind einfach nur nicht mehr da. Und überhaupt die Rede von den Naturgesetzen: auch hierbei wird die menschliche Weise, ein Gemeinwesen durch obrigkeitlich auferlegte Gesetze zu organisieren, auf die Natur übertragen. Ein solches Weltbild ist dann legalistisch. Kein Wunder ist es, daß dem legalistischen Denken das Verständnis für die immanente Steuerung des Naturgeschehens fehlt und es ständig die äußeren Umstände für maßgebend hält, wie z. B. die Selektion oder die angebliche Wirkung ferner Massen im Falle der Trägheit. Zu den aus der Sache kommenden Bedingungen, also jene, die im Sinne des Wortes ihr ursächlich sind, findet das analoge Denken keinen Zugang. Wegen seiner Verwechslung von Legalismus und Kausalität versucht das Gehirn Glauben zu machen, daß seine legalistischen Probleme mit der Quantenmechanik die Probleme der Quantenmechanik mit der Kausalität wären. Diesen Rechtfertigungstrick des Gehirns kann man guten Gewissens "den Stand der Forschung" in der Quantenmechanik nennen (siehe hierzu auch A&K 1/1996, S. 28, das Gespräch mit Peter W. Atkins bezüglich der Quantentheorie "als eine sehr viel einfachere Möglichkeit der Weltsicht", die immer wieder falsch interpretiert wird, weil die Interpreten "nicht mit offenen Ohren dem zuhören, was die Quantentheorie ihnen mitteilen könnte."). Ein befreiendes homerisches Gelächter wäre nun wirklich einmal fällig. Denn die seligen Götter im Olymp waren selig, weil sie über das Gehirn Bescheid wußten. Sie genossen seine Göttliche Komödie, während wir Menschen ganz besessen sind, sie zu spielen. Bohrs Warnung, daß wir im Spiel des Lebens nicht nur Zuschauer sondern auch Mitspieler sind, können viele Wissenschaftler, gefangen im Wahn ihrer Objektivität, noch immer nicht glauben.

Während der Attributationsmechanismus uns im täglichen Kampf ums Überleben hilft, mit unserem Nichtwissen umzugehen, macht er in der Wissenschaft durch Kategorienfehler Probleme, wenn es um Grundsatzfragen geht. Als aufgeklärter Hirnforscher hat man sie aber schon hinter sich gelassen. So will ich hoffen, daß mir der Leser bis hierher folgen konnte, denn eigentlich ist es gar nicht so schwer, dem Gehirn beim Denken zuzusehen, wenn man sich einmal klar gemacht hat, daß es objektiv nichts wissen kann sondern jeweils auf dem Weg des geringsten mentalen Widerstands plausible Lösungen anbietet, wobei ihm die selbstanalogen Lösungen die plausibelsten sind. Auf diese Weise versucht es, für sich das Beste aus der mißlichen Situation zu machen. Das Gehirn weiß zwar nichts, aber es weiß sich zu helfen. Und der Weise weiß eben dieses. Darum wurde Sokrates ein Weiser genannt, was das Gegenteil von einem Klugen ist, der immer bemüht ist, sich mit dem Zeitgeist vorteilhaft zu arrangieren, weshalb es so viele kluge Bücher gibt. Weil das Hirn sich zu helfen weiß, fällt es schwer, ihm richtig böse zu sein, obgleich es das Ich über seine Kompetenz immer wieder zu täuschen versucht und es zum Narren hält. Wenn man ihm aber merken läßt, wer der mental Stärkere ist, wird es Kooperation und das vertrauliche "Du" anbieten, was zeigt, daß man sich auf dem richtigen Weg der Aufklärung des wahren Verhältnisses von Gehirn und Ich befindet. "Dem nüchternen Neurowissenschaftler jedoch stellt sich die Frage, wie es diesem geschickten Gaukler namens Gehirn gelingt, das Ich im Glauben an seine Allmacht zu wiegen." (DER SPIEGEL 16/96 in der Titelreportage "Die Suche nach dem Ich".) Viel Glück, aber vor allem viel Nüchternheit, liebe Neurologen, auch wenn sie weh tut!


Wozu tierische Lebewesen ein Gehirn brauchen

Nachdem wir den Einstieg in die Gehirnforschung gefunden haben und mit dem Gehirn jetzt per "Du" sind, sollten wir, statt unsere Anfangseinsichten auszuschmücken, grundsätzlich werden, damit diese Studie nicht zu lang wird. Das Problem des Organismus ist es, sich - trotz seines prinzipiellen Unwissens - im Milieu überlebensdienlich zu verhalten. Verhalten wird von Informationen gesteuert. Und was ist Information? Richtige Information ist das, was einem Lebewesen gestattet, mit seinem Milieu überlebensdienlich zu interagieren. Und wieder ist zu fragen: Was ist Information? Information ist das vermittelnde Glied zwischen dem Milieu und den Effektoren der Lebewesen. Der Organismus findet aber nicht Informationen sondern nur Energien vor. Also hat er ein Problem.

Aus Energien Informationen zu machen ist die eigentliche Aufgabe und Leistung des Gehirns

bzw. des Nervensystems bei sog. "niederen Tieren"! Wer ihm das nicht zutraut oder dies nicht zugeben will oder darf, muß dann die Illusion pflegen, wie das weiter oben genannte Buch, daß in der Außenwelt seit jeher mit Informationen aufgeladene Reize vagabundieren, so als huschte der Reiz mir nichts dir nichts mit der objektiven Informationen huckepack in den Organismus hinein, sobald er seiner ansichtig wird. Aber der Reiz bedarf der Reizfähigkeit des Organismus, um entstehen zu können, und der Tüchtigkeit des Gehirns, diesen in Information zu verwandeln. Doch wie objektiv kann diese selbst generierte Information dann aber sein? Das ist die Frage, vor die das Gehirn das Ich zurückschrecken und sich im Objektivismus verkrampfen läßt, um weiterhin ungestört arbeiten zu können. Kein Wunder, daß wir lauter verkrampfte Erkenntnislehren haben, bei denen entweder das Subjekt (z. B. aufgrund von Apriorien) objektive Erkenntnis generiert (z. B. Kant) oder das Subjekt der Erkenntnis erst gar nicht vorkommt (z. B. Poppers "Objektive Erkenntnis"), weil ihm mit recht mißtraut wird. Oder wo die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse einfach stillschweigend vorausgesetzt wird, als wären Wissenschaftler kraft Doktortitel von der übrigen Menschheit abgehoben. Durch solchen Doktrinarismus bleibt die Wissenschaft gegenüber der unvermeidlichen Subjektbezogenheit allen Wissens blind und deren Gefangener und lernt nicht, sie zu handhaben und sie in ihre Grenzen zu verweisen. So verbaut sie sich den einzigen Weg, um zu einem souveränen Umgang mit der Subjektivität zu kommen. Und da, wo es ihr dank überragender Einzelner gelungen ist, wie in der Quantenmechanik, weshalb sich diese auch in einzigartiger Weise bewährt, wird vom Gehirn versucht, die erkannte Rolle des Beobachters, also die ins Bewußtsein gehobene und gemeisterte Subjektivität, wieder zu eliminieren. Hier drängt das Subjekt, durch Leugnung seiner selbst, mit Macht zurück in die Bewußtlosigkeit, um das Ich weiterhin die bequeme Illusion seiner Objektivität pflegen zu lassen.


Die sekundären Qualitäten

Gesteuert wird das Gehirn vom Selbstbehauptungswillen des Organismus und nicht etwa von den Ideen des Wahren, Guten und Schönen, die zur zielführenden kulturellen Ausstattung des schöngeistigen Bildungsbürgers zählen, weshalb er das Gehirn in seinen egoistischen Antrieben nicht versteht. Für den Organismus sind diese ganz legitim, denn das Gehirn soll ihm ja dienen. Das kognitive Grundvermögen des Organismus ist die Fähigkeit, einwirkende Energien entsprechend ihrer Wirkung zu unterscheiden und den Unterschieden spontan plausible Bedeutungen zu verleihen. Die Bedeutung ist ein vom Organismus hervorgebrachtes Produkt und als solches eine Mischung aus objektiver Energie und subjektiven Interesse, gebunden an Kognitionsmuster. Das Prinzip der Mischung von qualitativ Unterschiedlichen als immanentes schöpferisches Prinzip, wodurch immer wieder qualitativ Unterschiedliches entsteht, haben die Vorsokratiker entdeckt, nach dem sie erkannt hatten, daß mit der "Entstehung aus dem Nichts" vernünftigerweise nichts erklärt werden kann - ob mit oder ohne Hilfe eines "höheren Wesens". Null zu Null addiert ergibt immer nur Null, ganz gleich wer oder was addiert. Wenn uns die Mathematik etwas lehren kann, dann gerade dieses. Man kann sich nicht auf die Weisheit der Mathematik oder die Ergebnisse der Wissenschaft berufen und dann alles mit Null erklären wollen, denn auch die Erhaltungssätze der Physik lassen nicht zu, daß irgend etwas entsteht, was nicht schon in anderer Form existiert. Da liegt Atkins "Offensiver Rationalismus", mit seiner Hoffnung, eines Tages die Existenz der Dinge "aus dem absoluten Nichts heraus" erklären zu können (A&K 1/1996 S.27) völlig daneben. Auch hier ist ein den Forschungsergebnissen unangepaßtes (Wunsch-)Denken am Werk, das deshalb die wirklich "extrem einfache" gemeinsame Tiefenstruktur von Mathematik und Physik - den numerischen Erhalt der verwendeten Größen in allen Operationen - übersieht. Neues entsteht nur durch Mischung des Vorhandenen - aber das unausweichlich. So waren sich die Eleaten darüber im klaren, daß infolge des Prinzips der Mischung die Empfindungen unserer Sinne "sekundäre Qualitäten" sein müssen, die mit den ursprünglichen Qualitäten, die wir heute "Energien" nennen, z. B. in Form von Licht- und Schallwellen, nicht identisch sein können. Z. B. sind Geräusche, Gerüche und Farben solche interpretierten Energien. Es hat dann erst der wissenschaftlichen Strenge der Quantenmechanik bedurft, bis einige Physiker sich darüber klar wurden, daß es ohne Ohren keine Geräusche, ohne Nasen keine Düfte gäbe und daß mit den Augen auch das Licht als Licht und die Farben verschwinden würden und nur die Energien und sie ausstrahlende Materialien bleiben, was die leider zahlreichen Objektivisten unter den Forschern in eine anhaltende Sinnkrise gestürzt hat. Und ebenso, wie mit den sekundären Qualitäten, verhält es sich mit den kognitiven Bedeutungen, die etwas rein Geistiges sind, d. h. nur in Köpfen existiert. Um sie weitergeben zu können, müssen sie erst wieder in Muskelenergie umgesetzt werden, z. B. in eine Geste, oder mit Hilfe der linken Hirnhälfte in das über Stimmbänder auf Atemluft aufmodulierte gesprochene Wort. Inwiefern die Gesten/Wörter (= Daten) verstanden werden, hängt dann von der Akustik (bzw. den Sichtverhältnissen eines Gehörlosen, der von den Lippen ablesen kann) und vom Interpretationsapparat des Empfängers ab, vor allem von seiner Sprach- und Sachkenntnis, um aus bei ihm vorhandenen Bedeutungen ggf. neue Bedeutungen zu generieren, so daß wir uns eines völligen Verständnisses nie sicher sein können. Nicht die Realität bewirkt die Erkenntnis, wie naive Realisten meinen, oder weil wir ein Teil von ihr sind, wie Epistemologen so plausibel schwärmen, oder weil "jeder von uns den Logos, den göttlichen Funken hat", wie Atheisten sagen, sondern der Überlebenswille versucht von sich aus Daten spontan solche Deutungen zu geben, mit denen seine Effektoren sofort etwas anfangen können, z. B. die Deutung "Feind" oder "Beute", die den Muskeln gleich einen entsprechenden Tonus verleiht. Deutungen, die sich bewährt haben, überleben mitsamt dem Organismus der fähig ist, wichtigen Daten eine angemessene Bedeutung zu geben.

Schematische Darstellung der Entstehung sekundärer Qualitäten bei Lebewesen durch "Mischung" = Verbindung von qualitativ Unterschiedlichen:

 objektive* + subjektive Elemente   = Ergebnis der Mischung 
 einwirkende Kräfte + Sinne  = Sinnesreize (Daten)
 Daten + Subjekt (Gehirn)  = Deutung (Information)
 Information + Wille/Trieb (Ego)  = ggf. Entschluß/Antrieb
*bzw. das Ergebnis der vorangegangenen Mischung

Da wir mental von Bedeutungen abhängen, haben wir einen Bedeutungshunger und daher das Verlangen, in vielen Erscheinungen schicksalhafte Zeichen und Bedeutungen zu sehen, ob es sich um Sterne oder Kometen handelt, um Karten oder um Katzen, die über den Weg laufen, oder um das Blei, das zu Silvester gegossen wird oder auch um Träume der Nacht. Alles kann uns, dem mentalen Horizont entsprechend, etwas bedeuten. Heute ist es modern, die Zeichen von Außerirdischen zu sehen, ob am Himmel oder auf Parkplätzen im nächtlichen Wald. Auch hier handelt es sich um den Versuch, Ängste und Hoffnungen mental im Geist der (Raumfahrt-)Zeit aufzuarbeiten. Da kann es auch mal vorkommen, von Aliens entführt zu werden. Doktorspiele sind dabei gar nicht so selten. So erfahren die Betroffene ja auch mehr über sich - nur nicht, daß das Gehirn - durch Generierung von Bedeutungen - sie erneut zum Narren gehalten hat, sofern das Ufologen-Ich nicht seinerseits den Zwang verspürt, der erwartungsvollen Mitwelt etwas generieren zu müssen. Aber auch die Anhänger des starken anthrophischen Prinzips sind Opfer ihrer Bedeutungssuche: Weil das Universum so sein muß, wie es ist, um komplex organisierte Lebewesen, u. a. auch Menschen, hervorzubringen, glauben sie, Ursache und Wirkung vertauschend, daß dies auch der Zweck des Universums sei, das sich jedoch um Zwecke und Menschen nicht kümmert. Über solch profane Beweggründe lebendiger Wesen ist es völlig erhaben. Atkins nennt das anthropische Prinzip daher mit Recht "ein(en) Sumpf für die rationale Argumentation" (A&K 1/1996 S.29). Die Idee einer überirdischen schöpferischen Intelligenz oder von Zwecken des Unbelebten sind typische Erzeugnisse des Attributationsmechanismus, der Quelle aller scheinbar rationalen Sümpfe.

Zur Wahrheitsfrage selbst habe ich mich bereits in meinem Aufsatz "Was uns veranlaßt, eine Aussage für 'wahr' zu halten" in A&K 1/1995 geäußert, so daß es sich hier eigentlich nicht um die erste Studie sondern schon um die dritte handelt, wenn wir auch meine Parmenidesinterpretation in A&K 2/1995 hinzunehmen. Parmenides war der erste, der die Täuschungen des Gehirns durchschaut hatte und die Geschichte seiner Ent-Täuschung ganz folgerichtig in einer Himmelfahrt ("den kundereichen Weg") schilderte, an deren Ziel er, so wie wir hier, vertraulich mit der sonst so unnahbaren Göttin sprach, die ihn über den Wert der "doxa" aufklärte, nachdem sie ihn zuvor sogar für würdig befunden hatte, mit Shakehands huldvoll begrüßt zu werden. Die Vertrautheit des Parmenides mit dem Denkorgan war daher wohl noch eine größere als die unsrige hier, die wir bisher nur das vertraute "Du" angeboten bekamen.


Die Genese des Wissens

Wissen ist ein Mittleres zwischen Subjekt und Objekt. Nur dadurch ist es in der Lage, Mittler zwischen beiden zu sein. So gesehen ist ein "objektives Wissen" ein Widerspruch in sich. Parmenides verglich die Entstehung von Erkenntnis wie folgt: "So wie jeder hat die Mischung der vielirrenden Körperglieder, so wird die Erkenntnis dem Menschen zuteil", d. h. wie jeder eine unabgeklärte Mischung seiner elterlichen Gene ist, so ist die Erkenntnis eine unabgeklärte (und daher notwendig abzuklärende) Mischung aus objektiven und subjektiven Elementen. Durch Projektion subjektiver Elemente auf die aus der Außenwelt gewonnenen Daten wird aus dem unbekannten Objekt etwas mehr oder weniger Vertrautes. Überschießende Projektion (zu hoher Subjektanteil) erzeugt eine beseelte Welt (Animismus) mit Dämonen, Geistern, Göttern, Hexen, Engeln usw. Dies ist eine Form der "Information", die sich mehr mit den projizierten eigenen kon- und destruktiven = "guten" und "bösen" Kräften auseinandersetzt, als mit der Welt selbst. Hexenprozesse waren (u.a.) der Versuch, das eigene Böse durch das Hexenopfer auszubrennen. Wissen kommt in die Position des Mittlers durch die Anverwandlung der Realität, die das Fremde zu etwas Vertrauten macht, dem wir trauen. In dem Grad, wie der Mensch sich die Natur durch Projektionen eigener Kategorien unwillkürlich anverwandelt, glaubt er hinterher, sie zu verstehen. Weil sein Wissen subjektbezogen ist, ist es ihm nützlich. Weil es ihm nützlich ist, glaubt er, daß es objektiv ist, nach dem Grundsatz: "Wahr ist, was sich bewährt".

Wir wissen nicht so viel von der Natur, weil wir ein Teil von ihr sind, wie die Epistemologen so schön einleuchtend sagen - aber auch ein Stein ist ein Teil der Natur, trotzdem wird wahrscheinlich kein Epistemologe ihm ein reiches Wissen bescheinigen wollen, so daß sich das so plausibel klingende Argument in Luft auflöst - sondern, weil wir sie zu einem Teil von uns machen können, denn diese Fähigkeit ist es, die Lebewesen von Steinen unterscheidet.

Eine objektive Information wäre für ein spontanes Reagieren des Organismus unbrauchbar, da ihr die entscheidende kognitive Leistung - die Bedeutung - fehlt. Für das Überleben im Milieu würde es nicht reichen zu wissen, was die Dinge objektiv sind, das wäre zu wenig! sondern das Lebewesen muß vor allem wissen, was Daten ihm bedeuten. Die Bedeutung ist das, was etwas für ein anderes ist, ein Objekt für ein Subjekt, z. B. "Nahrung" oder "Fortpflanzungspartner". Mit der Bedeutung, die eine Mischung von objektiver Energie und subjektiven Interesse an ihr ist, steuert der tierische Organismus sein Verhalten nach der in ihr enthaltenen, für das Subjekt wichtigen Information. Der Objektivist, mit seiner Abbild- oder Spiegelhypothese, hält sein Wissen für die Verdopplung der Realität, durch die für das Subjekt jedoch überhaupt nichts gewonnen wäre, denn die verdoppelte Realität bliebe ihm genauso fremd, wie die Realität selber. Da die Evolution sich am Kriterium der Nützlichkeit orientiert, schuldet uns der Objektivist also nicht nur die Erklärung, wie ein objektives Wissen zustande kommen kann, sondern auch die, wie ein solch steriles Wissen dem Organismus nützen könnte. Da müßte jedes Lebewesen - neben seinem objektiven Wissen - noch wie ein Fürst über einen Geheimrat möglichst 1. Klasse verfügen, so eine Art Goethe als kleinen Mann im Ohr des kleinen Mannes, der für ihn im entscheidenden Moment die Konsequenzen aus dem objektiven Wissen zieht, was aber auch keine Lösung des Problems sondern nur seine Manifestierung wäre. Karl Marx hatte insofern Recht, als es nicht darauf ankommt, die Welt immer wieder neu zu interpretieren, denn unser Weltbild ist ja schon eine Interpretation des kognitiven Apparates. Aufgabe von Philosophie und Wissenschaft ist es daher, diese Interpretationen zu entschlüsseln, um unser Weltbild objektivieren zu können, wollen wir als globale Menschheit zu einem angemessenen Umgang mit den von unserer Massenhaftigkeit und unseren wissenschaftlich-technischen Komplex erzeugten Problemen kommen. Die Fähigkeit zur Objektivierung ist für uns zur Schicksalsfrage geworden. Sie wird jedoch gar nicht gestellt, solange unkritisch angenommen, daß wir von Natur aus, z. B. wegen Einströmen des göttlichen Logos am Ende eines Hochschulstudiums, sooo unheimlich objektiv sind. Ich frage mich nur, warum wir dann überhaupt Probleme haben, denn an Studierten haben wir ja keinen Mangel. Wahrscheinlich hört man nicht genügend auf sie, müßte ich jetzt einmal annehmen.


Die Genese von Gefühl und Geist

Freilich ist es das Gegenteil von Objektivierung, wenn bei dem Versuch, Anthropomorphismen zu vermeiden, das eitle Ich höher entwickelten Tieren gleich die Gefühle mitsamt der Existenzberechtigung ihrer Träger bestreitet. Im Reich der Emotionen ist der Mensch auch nur ein höher entwickeltes Tier. Mit Emotionen werden Bedeutungen bewertet, denn die Bewertung erst entscheidet darüber, wie ein Lebewesen sich verhält. Daher muß sie sich mit den Verhaltensalternativen von Lebewesen entwickelt haben. In Gefühlen und Instinkten kommt das in der Geschichte des eigenen Lebens und in der Geschichte der Lebewesen gesammelte implizite Wissen zum Ausdruck - das ist die größtmögliche Referenz! Was beim menschlichen Gehirn durch die Sensibilisierung der Hände (Fingerspitzengefühl!) so zugenommen hat, ist die Fähigkeit, Bedeutungen zu generieren, und - in einem zweiten Schritt -, das Handeln der Hände nach innen zu verlegen. Was den Händen widersteht, das können wir verstehen. Aus dem Greifen der Hände wurde das Begreifen mit Hilfe von erarbeiteten Begriffen, aus dem Fassen das Erfassen, aus dem (Hin-) Deuten der nonverbalen Verständigung, auf das, was gemeint ist, wurde die Bedeutung des Gesprochenen. Ebenso wurde - durch diese Transformierung der Körpersprache in die Begriffssprache - aus der aufklärenden Gebärde des Weisens das Ver- und Beweisen.

Das Geistige ist die nach innen genommene Auseinandersetzung mit der Welt,

die sich zwischen dem Ich und dem Gehirn abspielt: Das ist ein Ringen zwischen dem bewußten, dem expliziten Wissen der linken Hirnhälfte und dem unbewußten, dem impliziten, in der eigenen und in der Geschichte des Lebens vorwiegend in der rechten Hirnhälfte verarbeiteten Wissen, wobei die scheinbare Koinzidenz beider als "Wahrheit" erlebt wird.


Die 9. Kränkung des Menschen (nach Vollmer)

Zum Abschluß dieser Studie über das Verhältnis von Gehirn und Ich, über das inzwischen DER SPIEGEL (16/96) in einer Titelreportage "neue Erkenntnisse der Bewußtseinsforschung" vorlegte, die meine Thesen "über den geschickten Gaukler namens Gehirn" unterstützen, noch einmal der Anfang meiner Buchbesprechung über "Geheimnisvoller Kosmos Gehirn" in A&K 1/1996 S.141, die jetzt noch etwas verständlicher sein dürfte: "Nach einer Aufzählung von Gerhard Vollmer über die möglichen Kränkungen des Menschen (A&K 1/1995) käme im 21. Jahrhundert die neurobiologische Kränkung als 9. dazu. Die mit der Aufklärung der wahren Verhältnisse jeweils verbundene Desillusionierung, die Freud als "Kränkung" der menschlichen Eigenliebe bezeichnete, ist die notwendige Vorbedingung, wenn der Mensch nicht weiterhin der Affe seines tierischen Erbes (sondern wirklich Mensch) sein will. Nur wenn er die Bedingungen seiner Existenz geistig durchdringt, kann er jene mentale Souveränität erwerben, die ihm ein seinem Menschsein angemessenen Umgang mit den Problemen erlaubt, soweit sie ihm dann nicht sowieso gegenstandslos sind. Die 9. Kränkung wird in der Einsicht bestehen, daß der gesamte kognitive Apparat eine einzige, an der Plausibilität ausgerichtete Interpretationsmaschine ist, die Energien der Umwelt auf dem Weg des geringsten mentalen Widerstands (Mach nannte dies "Denkökonomie") durch Zuteilung von bewährten Bedeutungen in schlüssig scheinende Informationen verwandelt, die sodann überlebensdienlich bewertet werden. Da dies durchaus menschlicher Alltagserfahrung entspricht, wird der Widerstand gegen diese Einsicht hauptsächlich aus der Wissenschaft selber kommen, also auch aus der Gehirnforschung, soweit die Wissenschaftler (in einer Art Kastengeist) die "Objektivität der Erkenntnis" als Schutzschild gegen ihre Kritiker vor sich her tragen, da natürlich im Licht der 9. Kränkung auch wissenschaftliche Theorien nur noch einen Plausibilitätsanspruch einfordern können. Hinzugefügt werden muß noch: Erst wenn das Ich die Schilde seiner eitlen Rechthaberei abgelegt hat und es sich ohne Selbsttäuschung ehrlich um Selbstverständnis bemüht, ist es ihm möglich, eine mentale Basis zu erreichen, auf der eine Wissenschaft des dritten Jahrtausends nach wissenschaftlichen, d. h. von jedermann einsehbaren Kriterien urteilen kann. Die wissenschaftliche Wissenschaft wird nicht mehr "der Autorität instinktiver Prinzipien und der Notwendigkeit, die empirischen Fakten an sie anzupassen" (Paul Feyerabend in "Irrwege der Vernunft") unterliegen, was eben eine kritische Feststellung Machs, aber keinesfalls die Rechtfertigung eines solchen Vorgehens war, wie einige meinen. Solange wir Urteile fällen, deren Prämissen wir nicht kennen, wird es uns an wissenschaftlicher Kompetenz und am notwendigen Verständnis des angesammelten Wissens und somit an wirklicher Wissenschaftlichkeit fehlen. Durch ein den Forschungsergebnissen unangepaßtes Denken verfehlen wir deren Aussagen, wie z. B. der Umgang mit der Quantenmechanik belegt.

Den Mangel an Kompetenz und Weisheit kann nur eine auf geprüften Fundamenten errichtete wissenschaftliche Wissenschaft beheben. Im Gegensatz zu einer ihren Intuitionen ausgelieferten Wissenschaft wird von ihr das Gehirn benutzt, statt sich von ihm benutzen zu lassen.

Hinzu kommen muß aber noch die Erkenntnis: Alles Wissen, alles kluge Denken, alle hohe Moral und ausgefeilte Ethik - ebenso wie aller edle Humanismus und aller gottesfürchtige Glaube - sind für den Erhalt dessen, was wir "Schöpfung" nennen und was Grundlage unseres Existenz ist, zu dem auch die Freude an ihr gehört, vergebens, wenn es uns zugleich an bedingungsloser Liebe zu ihr gebricht. Wer nicht mitleidet, wenn Natur zerstört wird, und sei es "nur" das Gehirn von Rindern, weiß nicht, daß er ein Teil von ihr ist, weshalb jede Zerstörung unvermeidlich auf ihn zurückschlägt. Ohne die Liebe zu allen Belebten und Unbelebten, die der Mitwelt auf ihre Art zurückgibt, was menschliches Leben ihr zwangsläufig nimmt, wird die Geschichte des menschlichen Egos in seiner kalten vermeintlichen Objektivität nur ein verschwindendes Dasein haben, noch bevor es geschafft hat, sich von seinem beutegreiferischen Erbe zu emanzipieren. Die Irrtümer des Menschen, der seine intellektuellen Fähigkeiten nur für seinen Egoismus, nicht aber für eine aufgeklärte Selbststeuerung einsetzt und seine Macht und Zahl selbstverantwortlich beschränkt, machen den Menschen zum Irrtum der Evolution. Diesem könnte er nur begegnen, wenn es dem Ich gelänge, die blinden Antriebe des Gehirns und seine Hybris, gerade auch unter Wissenschaftlern, denen alles Tote und Lebende ganz selbstverständlich zur Verfügungsmasse gerät, in den Griff zu bekommen.

Dann - nur dann - würde aus dem selbstgerechten Gespann zweier Blinder
(dem Gehirn und seinem Ich)
ein aufgeklärtes Ich mit seinem Gehirn.


© HILLE 1996

Aus systematischen Gründen ist der ehemalige Anhang an dieser Stelle, "Was ist Leben?", als "Die Genese des Lebens. Das Ende der Problematik von Henne und Ei?" jetzt im Teil III, als Text (2) zu finden.
Der Satz im Abschnitt "Konfusion auch in der Biologie", "Der Vorgang der Evolution ist keiner der 'Anpassung' sondern der 'Verzweigung'. Das Ergebnis ist der Stammbaum der Arten." wurde nachträglich eingefügt, als Klarstellung der Gegenposition zu der heute üblichen Rede von der "Anpassung" als Ursache eines evolutionären "Fortschritts", die ein typisches Zeitgeistdenken spiegelt. Nähere Ausführungen hierzu als neuer Abschnitt im zuvor genannten Text im Teil III.


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