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Anmerkungen zur Soziobiologie


Haupttext veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 2/1995
Einführung

Der immer schneller werdende Zuwachs ethnologischer Ergebnisse und die mit ihm wachsende Zahl von Theorien macht dabei grundsätzlich deutlich, daß Erklärungen immer nur für überschaubare Zusammenhänge und für eine ebensolche Dauer möglich sind, daß aber das Lebendige in der Wahl seiner Reproduktionsstrategien selbst nie endgültig festgelegt ist. Dies darf aber gerade einen Soziobiologen nicht überraschen, denn eben die Überwindung der genetischen Gefangenschaft ist das Faktum der Sozität begründenden Sexualität, bei der die genetische Information nicht mehr in einem nur sich selbst reproduzierenden Lebewesen niedergelegt sondern über den ganzen Pool einer Population verteilt ist, der eine ständige Neukombination der Gene ermöglicht.

Doch menschliche Phantasie reicht nicht aus, sich alle tatsächlich vorkommende Wege und Strategien der Sexualität auszudenken, weshalb wir auch in Zukunft mit überraschenden Entdeckungen rechnen können. "Sexualität verändert nicht nur alles, was mit ihr in Berührung kommt", wie Forsyth zum Schluß schreibt, sondern ist selbst ein Chamäleon

Das Leben läßt sich eben nicht in allen Teilen durch die Kosten-Nutzen-Analyse der biologischen Reproduktion erfassen. Ein auf Nützlichkeit reduziertes Leben, ohne Barmherzigkeit und Kultur, wäre kein menschliches Leben und keiner möchte es führen. Und selbst Paradiesvögel und Korallenfische wären in ihrer Pracht nicht zu verstehen, wenn sie nicht so etwas wie einen Schönheitssinn hätten. Primär ist das Leben das zweckfreie Wahrnehmen der durch Gendrift selbst herausgefundenen Fülle von Daseinsmöglichkeiten. Die mögliche Fülle wird einerseits durch die Selektion der überlebensfähigen Phänotypen in Grenzen gehalten, andererseits geben diese der Drift durch ihre Einschätzungen und Vorlieben sich verstärkende Tendenzen.

Und neben der unbeantwortbaren Frage, warum es überhaupt Seiendes gibt, bleibt die Existenz des Lebens und der Liebe ein mit ihr verbundenes Mysterium.

Im übrigen aber pflanzt sich selbst der Mensch zwischendurch immer wieder mal auch durch Zellteilung fort. Das Ergebnis sind dann eineiige Zwillinge (oder Mehrlinge - im Fernsehen wurden 2002 sogar eineiige erwachsene weibliche Vierlinge gezeigt).

Oder nehmen wir das zeugungsbiologisch nicht aufarbeitbare Faktum der Homosexuellen - eine "Art", die das Kunststück fertigbringt, auch ohne Fortpflanzung zu überleben (auch wenn sie so tut, "als ob" sie sich fortpflanzen müßte)

Nachtrag. Letztlich werden wir aber auch einmal akzeptieren müssen, dass es nicht nur zwei Geschlechter mit jeweils zweierlei Neigungen gibt (plus solchen, denen das Geschlecht des Objekts ihrer Begierde egal ist), sondern vier oder fünf Geschlechter, die wiederum unterschiedliche Vorlieben haben. Dagegen scheint es ein rein geschlechtsloses Wesen nicht zu geben, von Viren als wandernde genetische Codes einmal abgesehen. Bei einer von 2.000 Geburten ist das Geschlecht nicht eindeutig festgelegt, was von vielen Ärzten immer noch als "Krankheit" angesehen wird, worauf sie dem Zwitter durch Operation und Hormonbehandlung ein Geschlecht "zuweisen". Diese Zuweisung ist oft der Beginn eines langen Martyriums, wenn Neigung und Zuweisung differieren. Weil gesicherte Unterlagen über den "Erfolg" dieser Zuweisungen fehlen, hat man in den USA vor zwei Jahren mit einer Langzeitstudie begonnnen, auch unter dem Druck, dass solche zwangsweise festgelegten Intersexuellen einmal für ihr Martyrium hohe Schadensersatzforderungen gegenüber den verantwortlichen Ärzten gelten machen könnten. In Konsequenz könnte dies einmal zu einer Akzeptanz der Intersexuellen führen, als Teil jenes allgemeinen Prozesses der Anerkennung der Rechte von Minderheiten, und könnte so auch zu mehr Toleranz in der Gesellschaft überhaupt beitragen.
Alle Angaben gemäß dem von 3SAT am 07.04.03 gesendeten Film von Thorsten Niemann "Intersexuell - zwischen den Geschlechtern". Der Film brachte auch ein Beispiel von Machbarkeitswahn, verbunden mit Unredlichkeit: Um die besonders in den USA beliebte feministisch-soziologische These, dass Geschlechterrollen eine Sache der Erziehung seien und nicht eine der Veranlagung "zu beweisen", wurde auf Drängen eines als Autorität angesehenen Professors aus Chicago ein von Ärzten zuerst versehentlich verstümmelter Junge als Mädchen aufgezogen, seine bei den auf ihn ausgeübten Repressionen empfundenen Qualen jedoch in den "Erfolgsberichten" des Professors niemals erwähnt. Den von seinen autoritätsgläubigen Eltern völlig im Stich gelassenen Jungen gelang es glücklicherweise sich selbst aus der auferlegten falschen Rolle zu befreien.
Nachtrag vom April 2003, zuletzt 05.05.03 erweitert


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