Was uns hindert, die Einheit des Daseins zu sehen

In der Sicht des Parmenides


Kommentar zu Parmenides "Über das Sein"
veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 2/1995


Inhalt:
1. Seiendes ohne Wenn und Aber akzeptieren
2. Die antagonistischen Unterscheidungen als Quelle des Irrtums
3. Das Prinzip der Mischung als immanentes schöpferisches Prinzip
4. Relationen sind keine Realitäten, weshalb Bewegung "nicht existiert"
5. Die Zeitlosigkeit des Seienden und des Lehrgedichts
6. Der Weg zum Humanum
Literatur


1. Seiendes ohne Wenn und Aber akzeptieren

Je mehr die Menschheit das Ökosystem "Erde" aus dem Gleichgewicht bringt, um so wichtiger wird es für sie, die Einheit und Ganzheit des Daseins zu verstehen und ihr Handeln darauf abzustimmen. Weltbevölkerungskonferenzen und Weltklimakonferenzen sind erste Versuche, die Menschen weltweit zu einem der immer gefährlicher werdenden Situation angemessenen Verhalten zu bringen. Angemessenes Verhalten ist vernünftiges Verhalten und setzt angemessenes Urteilen voraus. Aber nur wer über ausreichende Sachkenntnisse und Urteilskriterien verfügt, ist dazu in der Lage.

Meist werden Menschen jedoch von dogmenartigen Vor-Urteilen und kurzsichtigen momentanen Eigeninteressen geleitet, die sie am verständnisvollen Handeln hindern. Der fast völlig negative Ausgang der erwähnten Konferenzen ist ein Spiegelbild dieser geistigen Situation. Der m. W. erste, der sich nachhaltig Gedanken über die Ursache unangemessener Meinungen über die Welt machte, war Parmenides, ein griechischer Philosoph aus Elea in Unteritalien (um 540-480 v.Chr.), Begründer der eleatischen Denkschule, deren tiefe Einsichten zuerst durch die Quantenmechanik wieder aktuell wurden, als sie die Wechselwirkung zwischen Beobachter und Beobachteten bemerkten. Griechisch heißt Meinung "doxa", Wurzel des Wortes "Dogma", zu der sich eine Meinung, mit Hinterfragungsverbot belegt, unheilvoll verfestigt hat.

Nach der Auffassung der Griechen unterscheidet sich das Wissen der Sterblichen vom Wissen der Götter vor allem durch seine fehlende Gewißheit. Auf die Kraft des Vernunft bauend, war Parmenides überzeugt, auf logischem Weg Gewißheit erreichen zu können. Wegen dieser Grenzüberschreitung erschien es ihm angemessen, seine Lehre einer Göttin in den Mund zu legen und seine Botschaft über das Seiende in Gedichtform vorzutragen, ist doch die Dichtung in der griechischen Tradition das Wort der Gottheit1). Damit er die Worte der Göttin hören kann, beginnt daher das Gedicht mit der allegorischen Schilderung einer Himmelfahrt des Dichters. In einem von "vielverständigen Stuten" gezogenen Wagen erreicht er "das Tor der Bahnen von Nacht und Tag", das ist die Grenze zwischen Schein und Sein, das ihm von Dike, der Göttin des rechten Maßes allen Urteilens, nach Zuspruch von den Parmenides begleitenden Jungfrauen, geöffnet wird. "Hindurch ... lenkten ... die Jungfrauen Wagen und Stuten" (Frag.1, V.22). Huldvoll empfängt den Jüngling eine zweite, aber namenlose Göttin, seine Rechte ergreifend. Weil der Dichter sich auf einem "weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegenden Weg" von ihren Botinnen Themis (Göttin der Rechtsordnung) und Dike (Göttin des Rechts) hat leiten lassen, hält die namenlose Göttin ihn für würdig zu erfahren, daß undenkbar sei, daß Seiendes aus Nichtseiendem entstehen oder zu Nichtseiendem werden könne und daß alles Irren des Verstandes aus mangelndem Eigenvertrauen kommt, das ihn schwanken läßt, weshalb er glaubt, unbewiesenen Meinungen nachgeben zu müssen. Parmenides zeigt in logischer Konsequenz, daß:

"niemals kann erzwungen werden, daß ist, was nicht ist."2) "Denn welche Herkunft für es wirst du untersuchen wollen? Wie, woher wäre es gewachsen? ... Denn welche Verbindlichkeit könnte es dazu veranlaßt haben, vom Nichts anfangend, sich an einen späteren oder früheren Zeitpunkt zu entwickeln? Also ist unumgänglich, daß es entweder ganz und gar ist oder überhaupt nicht."(Frag.8)

Es begegnet uns hier der Gedanke der Unenstandenheit und der Gegenwärtigkeit alles Seienden und sei es nur als potentielle Möglichkeit einer existierenden Sache. Das Seiende bedarf also nicht eines Ersten Erzeugers oder Ersten Bewegers. (Götter werden von Parmenides in ihrer mythologischen Bedeutung gebraucht, um allgemeinverständlich zu sein.) An die den Dingen innewohnende und immer zu bedenkende Potenz erinnert Parmenides wie folgt (Frag. 4):

"Betrachte mit Verständnis das Abwesende als genauso zuverlässig anwesend: denn nicht wird das Verständnis das Seiende vom Seienden abschneiden,..."

Damit verbunden ist die Aufforderung zu akzeptieren, daß Seiendes ist, ohne Wenn und Aber, ohne ein Fragen nach Woher und Wohin: weder bedarf das Seiende als Seiendes einer solchen Begründung, noch ist sie logisch durchführbar. Wenn Heidegger nach dem "Sinn von Sein" fragt und mit "Warum gibt es überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?" Schellings Wunsch nach einer Begründung von Sein übernimmt, gibt er zu erkennen, daß es ihm infolge überschießender Rationalität am rechten Seinsverständnis fehlt, worüber auch sein Lamento über die Seinsvergessenheit der Philosophie nicht hinwegtäuschen kann, geht es ihm doch auch nicht besser. Dagegen bedarf das Seiende als Schein, der ja auch trügen kann, ganz dringend einer Aufklärung und diese ist der Inhalt des erkenntniskritischen Teils des Lehrgedichts, des sog. "Doxateils", der sich mit der Entstehung und dem Inhalt der Meinungen befaßt.

Schon an den wenigen zitierten Sätzen sehen wir, daß Parmenides ein kritischer Rationalist und Aufklärer war. Außerdem war er ein kluger Naturphilosoph, wie ich noch zeigen werde. Doch soviel vorweg: Er soll nicht nur erkannt haben, daß der Abendstern mit dem Morgenstern identisch ist, sondern Diogenes Laertios, im 3. Jh. n. Chr., Verfasser des einzigen nahezu vollständig erhaltenen antiken Sammelwerks zur Philosophiegeschichte, schrieb über ihn: "Er lehrte als erster, daß die Erde kugelförmig sei und in der Mitte der Welt liege."3)

2. Die antagonistischen Unterscheidungen als Quelle des Irrtums

Doch für entscheidender und für bis heute nicht ausgelotet halte ich seine Einsichten über das Zustandekommen menschlicher Meinungen. In unserer Zeit der Kognitionsforschung verdient Parmenides daher nicht nur ein historisches Interesse. Daß es nicht um die persönlichen Irrtümer Einzelner sondern um die allgemeine Art zu denken geht, sagt die Göttin gleich zur Begrüßung:

"So gehört es sich, daß du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt. Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig sein muß, insofern es allgemein ist". (Ende von Frag.1)

Meinungen, die auf der allgemeinen Art zu denken beruhen, sollen also nicht einfach abgetan sondern in ihren Gründen verstanden und dadurch widerlegt werden - denn es handelt sich ja um eine erkenntniskritische Lehre! Parmenides will uns durch den Mund der namenlosen Göttin sagen, wie es zu den "Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt" kommt und sie keineswegs verbreiten: Meinungen entstehen, weil der Mensch antagonistische Unterscheidungen trifft, die nicht in der Sache selber liegen. Jeder kennt dieses in uns angelegte Wahrnehmen und Denken in Gegensätzen, dieses Schwarzweißsehen, das uns zu einseitigen Urteilen verführt, die uns im Privaten wie im Politischen soviel zu schaffen machen und in deren Folge die Dinge nicht nur hell oder dunkel, heiß oder kalt, laut oder leise sondern Menschen und Mächte eben auch gut oder böse sind - ein Verständnis, dem also das rechte Maß fehlt. Am Finden des rechten, des angemessenen Maßes, das auch den Dingen Gerechtigkeit widerfahren läßt, war den Griechen besonders gelegen, weshalb Parmenides beanstandet:

"Sie haben sich nämlich entschieden, zwei Formen zu benennen - von denen nur eine zu benennen (ihnen) nicht erlaubt ist: darin liegt ihr Fehler. Sie haben sie der Gestalt nach als Gegensätze geschieden und voneinander getrennte Merkmale festgelegt: für die eine der Flamme himmlisches Feuer, das milde und vernünftig ist, sehr leicht, mit sich selbst in jeder Hinsicht dasselbe, jedoch nicht dasselbe wie die andere (Gestalt) - andererseits (haben sie) auch diese, für sich, als Gegensatz (bestimmt): unwissende Nacht, eine dichte und schwere Gestalt." (Frag.8, S.15)1)

D. h. am Ende ihrer antagonistischen Unterscheidungen sehen die Menschen die Welt, als wäre sie, wie Tag und Nacht, in zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende, gleich souveräne Mächte geschieden, die nichts Gemeinsames haben. (Frag.9) Aus der Überzeugung von der Einheit der Welt wird sich Parmenides darüber klar, daß wir selber es sind, die durch die Art des Wahrnehmens und Denkens die Spaltung in die Welt hineintragen, indem wir uns geistig auf den eingefahren antagonistischen "Bahnen von Tag und Nacht" bewegen. "Tag und Nacht" stehen hier für den Antagonismus. Doch ist die Dunkelheit nicht eigentlich nur der Grenzfall von Helligkeit und nicht ihr Gegensatz? Wie könnten wir, ohne die Erfahrung des Lichts, einen Begriff von Dunkelheit haben? Parmenides hat nicht versucht, die Welt durch die von ihm zitierten Gegensätze plausibel zu "erklären", wie immer wieder zu lesen ist, analog zu den "Erklärungen" der Naturphilosophen durch Elemente, bzw. "nach Art" eines Elements, oder Aggregatzustände, sondern er hat die Gegensätze durch Einsicht in die Struktur unseres Wahrnehmens und Denkens aufklären und zu Fall bringen wollen, um die Einheit und Ganzheit der Welt sichtbar zu machen, eines Sehens ihrer Einheit und Ganzheit, auf das wir heute mehr denn je angewiesen wären. Als erster Denker hat Parmenides zum Verständnis der Dinge nicht bei ihnen sondern beim Denken und Wahrnehmen selbst angesetzt und den Schein durchschaut, weshalb er sich sicher sein konnte:

"Diese Weltordnung und ihre (antagonistische) Entfaltung künde ich dir in der Scheinhaftigkeit ihres Wesens, so daß keines Menschen Meinung dich je überholen wird."4)

Wer die Gründe der Scheinhaftigkeit erkannt hat, ist durch keine dem Schein folgende Meinung mehr zu beirren. Aber der Antagonismus ist nicht die einzige Quelle des Irrtums, wie sich noch zeigen wird.

3. Das Prinzip der Mischung als immanentes schöpferisches Prinzip

Wenn Parmenides in der Rezension immer wieder als der Philosoph eines monolithischen Seins hingestellt wird, obwohl er immer nur vom Seienden sprach, als dem Gemeinsamen existierender Dinge, mit denen er sich intensiv auseinandersetzte, so liegt es m. E. einerseits daran, daß die erhaltenen Fragmente sich überwiegend mit der Unerschaffbarkeit und Unverletzlichkeit des Seienden als Seiendes auseinandersetzen, was Topitsch die "Vollkommenheitsprädikate" genannt hat, andererseits weil man lange gewohnt war, die Vorsokratiker als rationale Philosophen und Wissenschaftler nicht ganz ernst zu nehmen und daher keine Scheu hatte, unverstandene Aussagen für Abgründiges oder für weltfremde Spinnereien zu halten. Erst heute erkennt man nach und nach, daß sie in ihrem ursprünglichen Denken ganz rational Fragen gestellt, Paradoxien aufgedeckt und Gedanken entwickelt haben, die wir, z. B. durch die Fortschritte in der Logik und in den Kognitions- und in den Naturwissenschaften, überhaupt erst zu verstehen beginnen. Hans v. Steuben schreibt dazu in seiner ausführlichen Untersuchung über Parmenides: "Die meisten Studien (über Parmenides und sein Gedicht) sind denn auch offensichtlich von dem Bewußtsein getragen, daß Parmenides uns Probleme aufgegeben hat, die auch noch unsere Probleme sind."5)

Nachdem den griechischen Naturphilosophen klar geworden war, daß mit der Entstehung oder der Schöpfung aus dem Nichts sich logisch nichts erklären läßt, haben sie das Prinzip der Mischung entdeckt. Durch die Mischung von qualitativ Ungleichem, das kein in Gegensätzen Geschiedenes und Verharrendes sondern etwas polar Geordnetes ist, wie das männliche und weibliche Prinzip, entsteht durch die Verbindung jedesmal auch etwas qualitativ Neues, so wie das Kind eine von seinen Eltern unterschiedene Persönlichkeit ist. Außer von der Geschlechtlichkeit der Lebewesen wissen wir heute, daß auch die Materie polar geordnet ist, wobei ungleich Geladenes sich anzieht, während Gleiches sich abstößt. Aus der Verbindung des Ungleichen entsteht jeweils etwas Neues, sowohl bei den Kernbausteinen, als auch bei den Atomen und den Molekülen - bei denen auch eine von ihren Teilen so unterschiedene Qualität auftreten kann, daß wir sie dann nicht mehr "Materie" sondern "Leben" nennen. Wenn die Welt eine durch alle Bereiche durchgehende wirksame Struktur hat, dann ist es diese. Sowohl in Parmenides Kosmogonie, wie in seiner Biologie und Erkenntnislehre finden wir die Mischung als ein oberstes Prinzip der Veränderung, die jedoch das Seiende als Seiendes in seiner Unverletzlichkeit nicht berührt, weil substantiell weder etwas entsteht noch vergeht, so wie physikalisch die Summe der Energie in allem Wandel ihrer Erscheinungen dieselbe bleibt. Hätte Parmenides nur billig sagen wollen, daß alles nur Schein ist, dann hätte er es sich viel einfacher machen können und wohl kaum so genaue Beobachtungen über die Folgen von Mischung und Entmischung angestellt. Parmenides ging es darum, den Schein zu durchschauen, um das in ihm verborgene Seiende zu erkennen, dem was ist. - Die Entdeckung des weiblichen Eies in unserer Zeit vorwegnehmend, läßt er die Göttin sagen:

"Wenn Frau und Mann zusammen die Keime der Liebe mischen, formt die Kraft, die diese (die Mischung) in den Adern aus verschiedenem Blut bildet, wohlgebaute Körper, wenn sie nur die Mischung bewahrt." (Frag.17)

Wenn ein Prinzip in der Lage ist, das Seiende ohne Eingriff von außen mit dem Wandel der Erscheinungen in Einklang zu bringen, dann ist es die mit "Mischung" beschriebene innige Verbindung des qualitativ Ungleichen, die immer wieder qualitativ Ungleiches zur Folge hat, so wie Rost das Ergebnis der Verbindung von Eisen und Sauerstoff ist. Die Entdeckung dieses Prinzips durch Beachtung der Wahrheit, daß Sein weder entstehen noch vergehen kann, und seine Bestätigung durch die modernen Naturwissenschaften, mit den Erhaltungssätzen der Physik als oberste Sätze, ist ein Beispiel dafür, was es heißt, sich von keines Menschen Meinung je überholen/be-irren zu lassen.

4. Relationen sind keine Realitäten, weshalb Bewegung "nicht existiert"

Die Evolution kann nur durch Versuch und Irrtum am Erfolg ausgerichtete Erkenntnismechanismen entwickeln. Daher gehört zu allen Aussagen, die nicht rein logisch sind, ein meist nicht bewußtes opportunes Hintergrunddenken, mit dessen Hilfe wir unsere Urteile bilden. Parmenides spricht deshalb ganz richtig, von den "Meinungen der Sterblichen", "denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt". Wenn wir heute noch, aller Logik und Erfahrung trotzend, hartnäckig darauf bestehen, daß auch tote Dinge objektiv bewegt sind, wenn wir sie bewegt sehen, obgleich sie nicht einmal Bewegungsorgane haben, um einer solchen Rede auch nur den Anschein von Sinn geben zu können, so verdanken wir dies einem nicht bewußt gemachten, von unseren tierischen und steinzeitlichen Vorfahren überkommenen Rest animistischen Verstehens. In Ermangelung objektiver Kriterien gewinnt das animistische Denken sein Verständnis, indem es von sich auf anderes schließt, z. B. von der eigenen Beseeltheit auf die Beseeltheit der Dinge. Sieht es etwas aus seinem Umfeld herausgehoben "bewegt", also z. B. entgegen den vom Wind allgemein bewegten Ästen oder Wellen, versteht es diese Bewegung, in Analogie zu sich selbst als Animalischem, spontan als eine aktive und damit reale Eigenbewegung des durch sein Verhalten auffallenden Objekts - womit es in den für sein Überleben relevanten Fällen des Beutemachens und Gejagtwerdens auch richtig liegt. Und wegen der langen Erfolgsgeschichte dieser nützlichen Hypothese hält der alte Beutegreifer in uns so unbeirrbar an der Objektivität der Bewegung fest - was sich bewährt hat muß auch wahr sein, obwohl wir uns nur seiner Brauchbarkeit sicher sein können. Daher hat er keinen Zweifel, daß bei Problemen mit dieser Auffassung in nichtanimalischen Bereichen immer andere schuld sind, z. B. beim Ausbleiben von Meßergebnissen, infolge der fehlenden Objektivität der Bewegung, die Meßmittel, wie Einstein meinte, nur nie der vergeblich Messende selbst, wo er doch alles so "objektiv" sieht, was eben der Irrtum ist, den es aufzuklären gilt, soll es zu Fortschritten in der Wissenschaft kommen.

Die Einsicht, daß ein Körper, auf den keine Kraft einwirkt, für sich - und das heißt: objektiv - lediglich in seinem Zustand verharrt (Frag.8, V.28 und Newton, 1.Axiom9), kann sicher jeder logisch denkende Mensch nachvollziehen. Dazu muß man wahrlich kein Genie sein. Doch in logischer Konsequenz, entgegen der animistischen Denkgewohnheit, auch nicht mehr an die "Wahrheit" der Bewegung toter Dinge zu glauben, konnte vor der Quantenmechanik sich kein Physiker mental überwinden, letztlich auch Newton nicht. Parmenides und die eleatische Denkschule vertraten dagegen eine eindeutige Position, von der uns Sextus Empiricus, Ende des 2. Jhs. n. Chr. lebend, berichtet6):

"Daß sie (die Bewegung als eine objektive Eigenschaft des Bewegten) nicht existiert, behaupten Parmenides und Melissos und ihre Anhänger, die Aristoteles die 'Stehenmacher' und die 'Nichtnaturforscher' nennt. 'Stehenmacher' vom Stillstehen und 'Nichtnaturforscher', weil die Natur das Prinzip der Bewegung ist, die sie aufhoben mit der Behauptung, daß sich nichts bewege."

Das Urteil des Aristoteles, daß "Parmenides und Melissos und ihre Anhänger" das Stillstehen der Natur gelehrt hätten, zeigt nur, daß er die Erkenntniskritik der Eleaten nicht verstanden hatte. Da die Dinge der unbelebten Natur, um die es in der Physik geht, auch nicht die Spur von Bewegungsorganen und Bewegungswillen oder Nichtbewegungswillen haben, sind sie in Wahrheit über solche animalischen Kategorien wie "bewegt", "stillstehend" und "ruhend" völlig erhaben und verharren, für sich betrachtet und von sich aus, lediglich in ihrem Zustand, wie 2000 Jahre später Descartes wieder ganz richtig erkannte. Durch die Erkenntnis des objektiven Verhaltens von Körpern war es Newton danach möglich, die Dynamik zu begründen. Newton hat, wahrscheinlich ohne es zu wissen, auch hier ausgeführt, was Parmenides und die anderen Eleaten angedacht hatten und sie nachträglich als Naturforscher rehabilitiert. Ohne die Erkenntnis des objektiven Selbstverhalts physikalischer Gegenstände, der in der Mechanik ein Selbsterhalt ist, kann es in der Physik keine fundierten Aussagen geben! Und den Eigenzustand der Dinge kann nur erkennen, wer sich seiner Rolle im Beobachtungsvorgang bewußt ist. Wer sich nicht als Teil seiner Wahrnehmungen erkennt und über seinen Anteil am Wahrgenommenen Rechenschaft gibt, nimmt im eigentlichen Sinne des Wortes nicht wahr und bleibt als Gefangener seiner archaischen Denkmuster unfähig, objektive, d. h. die Objekte selbst betreffende Aussagen zu machen. Daher denkt und spricht er dann von Sonne, Mond und Sterne wie der Bauer vom Vieh, das im Pferch mal sich hin und her bewegt und mal verdauend ruht, so als gäbe es keine qualitative Differenz zwischen dem Verhalten von Belebtem und Unbelebtem. Kein Wunder, daß er mit den Kategorien "Ruhe" und "Bewegung" größte Schwierigkeiten hat, die unbelebte Natur zu verstehen und er sich überflüssige Erklärungen zurechtlegen muß, wenn objektive Beweise ihres angeblichen Bewegtseins ausbleiben. Seine irrtümliche Meinung ist eine der Sache nicht angemessene, unabgeklärte Mischung von objektiven und subjektiven Komponenten, die Parmenides mit der unabklärbaren zufälligen Mischung elterlichen Erbguts vergleicht:

"Denn so wie zu jeder Zeit (einer) hat die Mischung der vielirrenden Körperglieder, so auch wird das Erkennen den Menschen zuteil."7)

Die Quantenmechanik hat die Lehre der Eleaten, daß es sich bei unseren Sinneseindrücken um sekundäre, d. h. um neue Qualitäten infolge der Verbindung (Parmenides: Mischung) objektiver Energien mit subjektiven Erkenntnismustern handelt, wiederentdeckt, einschließlich der Konsequenz, daß bei Wegfall der subjektiven Bedingungen es auch die sekundären Qualitäten nicht mehr geben kann: in einer Welt ohne Augen gibt es kein Licht, keine Farbe, in einer Welt ohne Ohren keine Geräusche usw., was alle gläubigen Objektivisten in eine anhaltende Sinnkrise gestürzt hat. Doch nur eine Wissenschaft, die die Erkenntnismuster in ihre Urteile einbezieht, die sachgerechte Begriffe benutzt und die streng logisch und auf der Objektebene argumentiert, ist in der Lage, gültige Urteile zu fällen. Alle auf andere Weise gewonnenen Urteile sind und bleiben Doxai.

5. Die Zeitlosigkeit des Seienden und des Lehrgedichts

Daß Parmenides nicht nur der Bewegung toter Dinge ihre Realität bestreitet, sondern auch, daß es Vergangenheit und Zukunft "gibt" (Frag.8, V.5), ist nur konsequent und richtig, denn objektiv "gegeben" ist nur die Gegenwart. Nur sie ist wirklich, weil nur in ihr etwas bewirkt werden kann. Jeder ist sein ganzes Leben (und auch danach) stets in der nie endenden Gegenwart. Vergangenes und Zukünftiges gibt der Mensch sich selbst durch Erinnerung und Imagination. Wie durch das Verknüpfen von einander leicht abweichenden Bildern der Bewegungseindruck entsteht, so entsteht der Zeiteindruck, wenn sie in ihrer Reihenfolge durch das nicht weiter zu analysierenden Kriterium des 'Früher' und 'Später' geordnet werden, wie Einstein in "Grundzüge der Relativitätstheorie", einen Gedanken von Leibniz aufnehmend, schreibt.8) Wer Raum und Zeit für selbständige Realitäten und nicht für Erkenntnismuster hält, verkennt kleinmütig die kognitiven Fähigkeiten des Lebendigen, sowie worauf Kognition beruht. Mit Raum und Zeit ordnet der kognitive Apparat das Chaos der Wahrnehmungen getrennt nach statischen und dynamischen Aspekten, die allem Messen vorausgehende Bedingungen des Begriffs von Größen und ihres Messens sind. Wenn wir eine reale Sache ohne die Relationen herstellenden Verknüpfungen rein für sich betrachten, dann finden wir bei ihr weder Ort, noch Bewegung, noch Zeit. Oder wie es die Mystiker, unsere Selbsttäuschungen erkennend, ausdrückten: bei Gott (d.h. in Wahrheit) sind alle Dinge in einem Ewigen Nu (Meister Eckhart). Während aber die Mystiker, von ihrer Religion auf Gott fixiert, glaubten, die Nichtigkeit der Welt zu durchschauen, bemerkte Parmenides die Nichtigkeit unserer Meinungen über die Welt bzw. das Seiende, weil er erkannte, wie es für sich selber ist: Nachdem Dike vom "ätherischen", also dem geistigen Tor der "Bahnen von Tag und Nacht" den Riegel aus antagonistischen Denkgewohnheiten zurückgeschoben hatte (Frag.1, V.20), weitete sich Parmenides' Horizont und er sah die tiefe Kluft (griech. "chasma") zwischen der Wahrheit und den "Meinungen der Sterblichen", eine Kluft, welche die Differenz zwischen den Objekten des Wissens und einem pragmatischen Handlungswissen ist. Da das Seiende als Seiendes auch über die bezeichnenden Namen, die ihm die Menschen beigelegt haben (Frag.19, letzter Vers) weit erhaben ist, erscheint es mir naheliegend, daß die namenlose Göttin, die ihm, nach Verlassen der "Bahnen von Tag und Nacht", begegnete und sich ihm, durch Ergreifen seiner Rechten, auf das Sicherste manifestierte, das namenlose Seiende selber war, in dessen Licht er mit Hilfe der Dike getreten war. Der beim Ergreifen der Rechten ins Spiel gebrachte Berührungssinn ist als zuverlässigster Sinn der Sinn der Wahrheit, weil er ohne ein verfälschendes Medium auskommt, das zwangsläufig eigenen Gesetzen folgt. Mit dem wahrhaft Seienden im geistigen Kontakt konnte Parmenides die dem Seienden nicht gerecht werdenden Denkweisen, Begriffe und Urteile erkennen und ablegen. Die unaufhebbare Gegenwärtigkeit des Seienden drückt er so aus (nach Riezler):

"Es ist nicht ein Vergangenes, noch ein Zukünftiges, da es Jetzt ist, ..."

Wenn das "Jetzt" keine Zutat späterer Autoren ist, dann gehört es zu dem, was Parmenides "die trügerische Ordnung meiner Verse" nannte (Frag.8, V.53), die sich dadurch ergibt, daß das Seiende mit Begriffen des Scheins erklärt werden muß, um es den Menschen verständlich zu machen, hier mit dem "Jetzt" als zeitliche Abgrenzung gegenüber dem Früher und Später. Wegen der Zeitlosigkeit des Seienden müßte die Begründung logischerweise aber lauten: "weil es ist." Und ebensowenig wie sich sagen läßt, wann es ist und wo es ist, läßt sich sagen, was es ist, sondern ehrlicherweise nur, daß es ist, gehören doch alle Namen und Relationen zum Bereich des Scheins.

So ist Parmenides nachdrückliche Feststellung, daß "Seiendes ist", nicht die "leerste aller leeren Tautologien", wie Riezler schreibt10), sondern - die Grenze des redlich Denk- und Sagbaren ausdrückend - Ergebnis der lautersten Einsicht in das Verhältnis von Denken und Sein, weshalb es im Zentrum seiner Argumentation steht.

Die "Himmelfahrt" des Parmenides ist selbst ein Gleichnis dafür, welch sowohl weiter, als auch unüblicher Weg zurückgelegt werden muß und welch außerordentlicher Fügungen es bedarf, um von den Wertungen der Sterblichen, über trügende Erklärungen hinweg zur lautersten Aussage zu kommen, jenseits derer wir redlich nichts mehr sagen können. So ist Parmenides gerade kein Zeuge für irgendeine metaphysische Spekulation, sondern Verfasser einer ersten Kritik der Erkenntnismöglichkeiten der Vernunft. Als Äußerstes können wir nur erfahren und sagen, daß "Seiendes ist und Nichtseiendes nicht ist". Das "Nichtseiendes sei" ist völlig unerfahrbar, "drum halte von diesem Weg des Fragens fern den Gedanken, laß Dich nicht auf ihn zwingen, nicht durch die Gewohnheit und ihr vieles Erfahren, nicht durch das Walten der ziellosen Augen, des brausenden Gehörs und der Zunge."11)

Im Leben haben wir es immer mit einer vom Selbstbehauptungswillen gelenkten opportunen Bewertung der Realität zu tun (Evaluierter Realismus). Daher ist es erforderlich, die selbstbezüglichen Wertungen mit der Logik zu durchbrechen und der Vernunft mehr als den gewohnten sinnlichen Wahrnehmungen und den aus Hörensagen stammenden Meinungen zu trauen, wie es Parmenides tat. Meinungen hinter sich lassend, wurde sein einzigartiges Gedicht selbst zu einem zeitlosen Werk, dessen angebliche Dunkelheit, nun, nachdem wir zu sehen beginnen, um was es ihm ging, in dem Maße verschwinden wird, je mehr unsere erkenntniskritischen Einsichten zunehmen. Was Parmenides uns sagen wollte, kann nicht allein durch philologische Forschung verständlich werden, denn ihn zu verstehen war auch schon in der Antike eine Frage der Einsicht in das Verhältnis von Denken und Sein.

6. Der Weg zum Humanum

Das Lehrgedicht des Parmenides ist das Ergebnis seines radikalen Fragens nach der Wahrheit und nichts als der Wahrheit, wie es uns ein letztesmal bei Sokrates begegnet, der dafür einen hohen Preis zahlen mußte. Andere griechische Philosophen der bis heute viel zu wenig beachtete ersten europäischen Aufklärung erlitten das Schicksal der Verbannung. Protagoras, der berühmteste der Sophisten, starb nach seiner Verurteilung wegen Gottlosigkeit auf seiner Flucht aus Athen. Das Fragen dieser Aufklärer war noch nicht von dem geistig so lähmenden, bis heute andauernden Bemühen vieler nachfolgender Philosophen geprägt, im Wettbewerb mit der Religion oder ihr dienend, dem Menschen Tröstliches sagen zu wollen, oder in Konkurrenz zur Politik, staatstragende Lehren zu verkünden, wie sie uns erstmals in Platons "Staat" geboten wurden. Auch heutige Wissenschaft ist nicht von solchen, der menschlichen Befindlichkeit dienenden Bestrebungen frei: Ein starkes anthrophisches Prinzip, das den Kosmos um des Menschen willen da sein läßt, oder alle Versuche, die fraglich gewordene Objektivität der Wahrnehmung "durch kühne Theorien", die doch nur Plausibilitäten sind, zu retten, sind da nur Beispiele, solch scheinbare Menschenfreundlichkeiten auch in der Wissenschaft zu etablieren. Statt die von der Evolution in uns angelegten Sichtweisen aufzuklären, sollen diese im Namen von Wissenschaft gerechtfertigt erscheinen. Das ist zwar ein menschlich verständliches aber anachronistisches Unterfangen, da Techniker inzwischen schon ganze Industriezweige, wie das Kino, das Fernsehen und die Elektronik, auf dem Ungewohnten basierend, Ungewohntes produzierend, etabliert haben, das nicht wegdiskutiert werden kann.

Suchen wir krampfhaft nach Rechtfertigungen offenkundig gewordener Irrtümer, anstatt sie abzulegen, dann sind wir nicht zukunftsfähig. Es ist richtig, daß die Wahrheit weder tröstlich noch bequem sondern nur wahr ist. Doch die ungeschminkte und für jede neue Erkenntnis offene Aufklärung des wahren Verhältnisses von Denken und Sein, die den Wahrheitswert wissenschaftlicher Aussagen überhaupt erst bestimmen kann, bietet uns die Chance, unseren mesokosmisch geprägten geistigen Horizont zu erweitern und zu erkennen, daß die Welt, über diesen weit erhaben, eigentlich viel wunderbarer ist, als wir sie mit unserem biederen, aufs Beutemachen ausgerichteten Hausverstand bisher gesehen haben. Daher müssen wir uns entscheiden, was wir wollen. Doch bin ich überzeugt, daß wir auf Dauer unser Menschsein und unsere Zukunft nur meistern können, wenn wir erwachsen werden und die Welt so annehmen, wie sie tatsächlich ist, und daß alle die benebelnden Schönredereien und die wohlfeilen Tröstungen weder des Menschen würdig, noch für das Überleben der Menschheit hilfreich sind. Wer "die Meinungen der Sterblichen" hinter sich läßt wie Parmenides, wird dadurch zwar nicht in einem wörtlichen Sinne gleich selbst unsterblich, wie ratlose Deuter des Parmenideischen Textes auch schon gemeint haben, auch wenn er sich als in die Einheit und Ganzheit eines zeitlosen Seins eingebunden begreift, aber er befreit sich vom Zwang uralter, seinen Problemen nicht mehr angemessener Erkenntnismuster und gibt dem Humanum in sich Gelegenheit, wachsen zu können und wird darin selbst zum Baustein einer humanen Gesellschaft. Philosophischer Humanismus heißt für mich, die geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen durch Aufklärung des unzeitgemäßen tierischen und steinzeitlichen Erbes zu befördern.

Dem Humanum durch ungeschönte Wahrheiten Platz zu schaffen, sollte das erste Anliegen der Philosophen sein.

Ich hoffe, ich konnte hier zeigen, welchen konkreten erkenntniskritischen und naturphilosophischen Hintergrund einzelne, dunkel erscheinende Äußerungen des Eleaten haben und inwieweit solche Einsichten in der Lage sind, uns bei der Lösung kognitiver, ethischer und ökologischer Probleme zu helfen - vorausgesetzt, daß eine Offenheit für diese Hilfe besteht.

Literatur:
1)Parmenides, über das Sein, Reclam Bd.7739, Übersetzung und Gliederung von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1985, Kommentar von Jaap Mansfeld, S.81.
 Desgl. sind alle Verse (V.) ohne Quellenangabe dem Bd. entnommen. (Frag. = Fragment)
2)wie 1) Frag.7, V.1
3)wie 1) S.25, Nr.3
4)Kurt Riezler, Parmenides, in: Quellen der Philosophie, hrsg. von Rudolph Berlinger, Vittorio Klostermann Frankfurt/M. 1970, S.37 V.60
5)wie 1) S.105
6)wie 1) S.27, Nr.6
7)wie 1) Frag.18, V.1 u. 2
8)Albert Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie, Braunschweig: Vieweg & Sohn 1969, S.5
9)Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Ausgew., übers., eingeleitet u. hrsg. von Ed Dellian, Hamburg: Meiner 1988, S.44
10)wie 4) S.45
11)wie 4) S.31, VIII
© HILLE 1995
Satz über
Heidegger vom Mai 2003

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