Über das Selbst-Verständliche als Grundlage jeder Theorie


Begreifend was das Selbst-Verständliche ist
und wie sehr wir zur Verständigung seiner bedürfen und uns in ihm finden,
werden wir uns als rationale Wesen selbst verständlich.

Abstract

Das Selbst-Verständliche ist ein Satz, der keiner weiteren Begründung bedarf, also ein Grund-Satz, auch "Prinzip" genannt. Erhaltungssätze sind selbst-verständlich, denn nur wenn etwas sich nicht in seinem Zustand erhält, würde dies einer Erklärung, in der Physik in Form einer Ursache bedürfen. Weil Energie das physikalisch Allgemeinste ist, ist der Erhaltungssatz der Energie zugleich der allgemeinste Grund-Satz der Physik. Als Heisenberg im Frühjahr 1925 in einer einsamen Nacht auf Helgoland feststellte, dass seine Energiematrix dem Erhaltungssatz der Energie genügt, hatte er "das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen ..." Aber schon Newton hatte mit Selbst-Verständlichen begonnen, denn dass jeder Körper von sich aus sich in seinem Zustand erhält, ist ein Axiom, das keiner Begründung bedarf. Doch der Erste, der dem abendländischen Denken den Weg wies, war der Vorsokratiker Parmenides (ca. 540 - 480), als er in seinem Lehrgedicht über die Natur eine namenlose Göttin verkünden ließ "Seiendes ist" - denn wo sollte es herkommen und wo sollte es hingehen? So gesehen ist der Erhaltungssatz der Energie die Anwendung dieses obersten Prinzips auf einen speziellen Bereich. - Mit Selbst-Verständlichen beginnend können wir hoffen, verständigen Menschen uns verständlich zu machen. Andernfalls würden wir nur Meinungen (gr. "doxa") verbreiten, wie die Göttin zu Parmenides ebenfalls sagte.

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Referat

Das Kausalitätsprinzip und ebenso Leibniz "Satz vom zureichenden Grunde" sind m.E. Konsequenzen des noch allgemeineren Forschungsprinzips des unbelebten Geschehens, nämlich dem der Nichtwillkürlichkeit, weil Unbelebtes ja keinem regulierenden Willen unterliegt - weder hat es selbst einen Willen, noch kann es allein durch einen Willen beeinflusst werden. In der Forschung besagt Nichtwillkürlichkeit, es sind jene Annahmen zu bevorzugen, die keiner weiteren Erklärung oder Hypothese bedürfen, die also möglichst durch sich selbst verständlich sind. Und hat man sie einmal gefunden, ist jede weitere Begründung überflüssig und daher abzulehnen, getreu Ockhams Rasiermesser, sich mit einer Erklärung zu begnügen, wenn sie denn ausreichend ist. Eine solche Selbst-Verständlichkeit ist die auf Descartes zurückgehende Definition, dass alle unbelebten Körper von sich aus in ihrem Zustand verharren, solange keine Kraft an sie angreift (Newton 1. Axiom). Das heißt nicht, dass ihren Zustand von sich aus haben, sondern nur, dass sie sich in ihm von sich aus erhalten. Wäre dies nicht der Fall, würde dies einer Erklärung bedürfen. So ist es ebenfalls die einfachste und selbst-verständlichste Annahme, dass auch das foucaultsche Pendel von sich aus in seiner Schwingungsebene beharrt und dazu keines Eingriffs von außen bedarf.

Erst Änderungen eines Zustandes, ungleichmäßige Folgen einer Entwicklung und die asymmetrische Ausbreitung von Kräften bedürfen einer Erklärung. So ist auch nichtwillkürlich davon auszugehen, dass das Licht einer rundherum strahlenden Quelle sich in alle Richtungen mit gleicher und gleich bleibender Geschwindigkeit von ihr entfernt, sofern eben nicht in einzelnen Richtungen eine Kraft oder ein Medium auf es einwirkt. Folglich bedarf auch diese Annahme keiner "Erklärung", d.h. auch, dass jede "Erklärung" der Isotropie der Lichtausbreitung so überflüssig wie zwangsläufig falsch und daher abzulehnen ist. Nur vor diesem Hintergrund machte das Michelsonexperiment überhaupt Sinn. Ferner benötigt auch der Satz von der Erhaltung der Energie keiner weiteren Begründung oder "Erklärung", weil Erhalt selbst-verständlich ist, was ihn zum obersten naturwissenschaftlichen Grund-Satz macht. Bereits in der Antike versuchte Parmenides den auch damals verstockten Zeitgenossen klar zu machen, das Seiendes weder entstehen noch vergehen sondern sich lediglich wandeln kann. "Seiendes ist", war immer und wird stets sein, wurde Parmenides von einer Göttin gelehrt, um darzutun, dass es sich nicht um eine Meinung von Sterblichen handelt, denn die Wahrheit kommt nur den Göttern zu. Schellings, von Heidegger aufgegriffene Frage "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?" macht so gesehen keinen Sinn, verfehlt vielmehr den Sinn von Sein als das Selbst-Verständliche.

Nur in ihren Akzenten waren Heraklit und Parmenides verschieden. Während Parmenides dem allen Wandel zugrunde liegenden Erhalt des Seins betonte, sah Heraklit nur den Wandel der Dinge selbst, den Weg des ewigen Feuers, das abwechselnd alles in einem - Zustand der Singularität, wie wir heute sagen - und dann wieder eines in allem ist: der gegliederte Kosmos. Aber beiden war klar, dass das Universum keine Grenzen in der Zeit hat, was die heutigen Kosmologen der Urknallsingularität nicht wahrhaben wollen, den Grund-Satz von der Erhaltung der Energie ignorierend, weshalb sie zahlreicher ebenso willkürlicher wie überflüssiger Annahmen bedürfen. Dem Prinzip der Nichtwillkürlichkeit entspricht auch, dass die Schwerkraft eines Massenpunktes, ebenso wie das Licht, sich gleichmäßig im Raum verteilen, was Newtons Gravitationsgleichung durch den Divisor r² ausdrückt, der besagt, dass in jedem Radius um den Punkt herum die Summe der Gravitationskräfte des Punktes die gleiche ist und bleibt, ein rein räumliches Gesetz, das wiederum dem Energieerhaltungssatz entspricht. Jede andere Annahme, z.B. r³ oder r1,9 wäre willkürlich.

So hat Newton lauter Selbst-Verständlichkeiten entdeckt, weshalb seine Mechanik auch "klassisch" heißt und weshalb sie eine unverzichtbare Grundlage der Verständigung ist, z.B. gerade auch über die Besonderheiten der Quantenmechanik, wie deren Kopenhagener Deutung hervorhebt.

Werden jedoch Abweichungen von einem selbst-verständlichen Verhalten festgestellt, ergibt sich in der Physik die Aufgabe, die dafür verantwortlichen natürlichen Kräfte zu suchen. Mit Selbst-Verständlichkeiten haben nur jene Ideologen Probleme, die immanente Ursachen leugnen, weil sie als Deterministen alles Geschehen als Folge äußerer Eingriffe deuten möchten, in letzter Konsequenz durch das Wirken Gottes, um denen es ihnen - bewusst oder unbewusst - zumeist geht, weshalb für sie Selbst-Verständlichkeiten bloße Tautologien sind.

Das Forschungsprinzip der Nichtwillkürlichkeit ist m.E. auch jenes, das der Mathematik zugrunde liegt, was wiederum erklären würde, warum sie naturwissenschaftlich so brauchbar ist. Nur das 2 + 2 = 4 ist, bedarf keiner Begründung, da nur im Produkt 4 der quantitative Wert der beiden Glieder sich wiederfindet, nicht aber z.B. in 5 oder 3,9. Die Algorithmen müssen also so abgefasst sein, dass die quantitativen Werte durch alle Rechenoperationen hindurch erhalten bleiben. Und wenn sie das werden, dann sind mit ihrer Hilfe zuverlässige Vorhersagen möglich. Also auch hier kommt es auf den Erhalt an!

Prinzipien sind Ideen und die Quelle der Ideen ist der menschliche Geist und nicht die Erfahrung, auch wenn Ideen durch Erfahrung angeregt sein können und ihr Ausdruck verleihen. Man könnte zwar sagen, die Vernunft fasst das empirisch Erfahrene unter einer Idee zusammen, was aber die eigenständige Leistung des Geistes, nämlich Ideen zu haben und in Ideen zu denken, verschleiern würde. Jene, die überzeugt sind, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, weil sie in ihrem Reduktionismus die schöpferische Kraft des Geistes bestreiten, können dann gar nicht anders, als Denkmöglichkeiten für Realitäten zu halten und sind geneigt, sich auf ihre Intuitionen als objektive "Eingebungen" zu verlassen.

Um ihr Weltbild zu rechtfertigen, versuchen sie dann, die reale Existenz ihrer Ideen "zu beweisen", d.h. nach geeigneten Interpretationsmöglichkeiten Ausschau zu halten, um wenigstens den Anschein des Beweises führen zu können. Doch Ideen sind keine Naturprodukte. Daher bleibt die Aufgabe, sich ihrer Vernünftigkeit zu vergewissern. Man kann sich also nicht auf Ideen und Intuitionen verlassen, will man sich nicht der Gefahr aussetzen, Phantomen nachzujagen und sich so zum Narren zu machen. Beide sind stets umfassend kritisch zu bedenken, denn mit Ungeklärten kann man nichts erklären. Nur Selbst-Verständliches verhilft uns, etwas wirklich zu verstehen. Und das Prinzip der Nichtwillkürlichkeit als Kriterium ist der Fels in der Brandung heranstürmender Ideen. Daher bleibt die Aufgabe, alle Forschungsprinzipien sorgfältig zu prüfen und ebenso sorgfältig anzuwenden, soll Wissenschaft nicht in die Irre gehen.

So findet das Forschungsprinzip der Nichtwillkürlichkeit selbst seine Grenze dort, wo ein Wille ins Spiel kommt, also beim Lebendigen, das zwar ebenfalls grundlos versucht, sich in seinem Zustand zu erhalten, sich aber möglichst nicht dem Zufall überlassen will, um seine Erhaltungschancen zu verbessern.

Zur Rechtfertigung von Parmenides Lehrgedicht "Über das Sein" spricht Plutarch (45 - 120) von den "zwei Naturen des Wissens": dem logisch, anhand von Prinzipien erkennbaren Wissen, "mit sich selbst identisch und bleibend im Sein", und dem meinbaren Wissen, das auf sinnlicher Wahrnehmung beruht, "als etwas Unzuverlässiges, in vielerart Zuständen und Wandlungen Befindliches, das sich zudem jedem andern gegenüber anders darstellt", sind doch die an der eigenen Verständigkeit ausgerichteten Urteile über sinnlich erfahrbare Dinge das den Menschen spontan Gegebene. Sicherheit des Wissens, und damit Intersubjektivität, kann daher nur auf der Grundlage selbst-verständlicher logischer Annahmen als Urteilskriterien erreicht werden, mit deren Hilfe wir verstehen. Die wahre Intersubjektivität beruht also nicht auf Einigungen über Sachverhalte, die ja die Einigkeit über Irrtümer nicht ausschließt, sondern auf Einsichten, die Sachverhalte zwingend machen:

Übereinstimmung durch Zusammenstimmung mit Hilfe des Selbst-Verständlichen.

Wie dies die Arbeitsweise des Gehirns ist, erkenntlich am gemeinsamen Feuern der Neuronen, so sollte sie die kontrollierte Arbeitsweise eines Teams sein.

In meinen Philosophischen Wörterbüchern findet sich das Stichwort "Selbstverständliches" - ob mit oder ohne Bindestrich nach dem "Selbst" - leider nicht, obwohl ich es für ein Schlüsselwort halte. Das Selbst-Verständliche ist das dem Verstand unmittelbar, d.h. ohne Rückgriff auf die Erfahrung, Verständliche und kann dementsprechend von jedermann zu jederzeit geprüft und nachvollzogen werden. Aber es ist ebenso klar, dass Selbst-Verständliches keine weiteren Erklärungen braucht, wäre es doch sonst nicht mehr selbst-verständlich. Deshalb muss man sagen:

Wer immer Selbst-Verständliches erklären oder erklärt haben will, hat keinen Verstand. Zumindest aber weiß er nicht, auf was das Verstehen beruht. Denn wer schon Selbst-Verständliches nicht versteht - was will er dann verstehen? Jedoch mit Selbst-Verständlichen beginnend können wir hoffen, verständigen Mitmenschen uns verständlich zu machen. Ja, letztlich ist das Selbst-Verständliche der uns Urteilskraft schenkende Schlüssel aller Erkenntnis, sowohl über die Welt, als auch über uns selbst als geistige Wesen. Begreifend, was das Selbst-Verständliche ist und wie sehr wir als geistig-rationale Wesen seiner bedürfen und uns in ihm finden, werden wir uns selbst verständlich.

Prinzipien sind keine Dogmen, denn sie müssen vor dem Forum der Vernunft bestehen. Vielleicht weil in der Vergangenheit Prinzipien missverständlich angewendet wurden, besteht bei Naturwissenschaftlern kein großes Vertrauen zu ihnen und sie möchten sich lieber auf "Tatsachen" verlassen, was eben bei ihnen so als "Tatsache" gilt. Wenn kein Vertrauen zu Prinzipien besteht, dann heißt dies eben, dass es notwendig ist, am Verstande und am Verständnis zu arbeiten, z.B. durch Klärung der verwendeten Begriffe und Prinzipien und durch Einsicht in die Vorgehensweise des Gehirns. Das wird mehr an Wissen bringen als alles Herumforschen auf unsichere Begriffe und Annahmen hin, was ja wieder nur genauso unsichere Ergebnisse zeitigen kann. Nur insoweit wir wirklich vernünftige Prinzipien beachten und von ihnen ausgehen, gewinnen wir ein diskursfähiges vernünftiges Weltbild - das ist das Höchste, was wir als Vernunftwesen gewinnen können.

    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Autor:
Helmut Hille, Heilbronn
FV DD, Mitglied des AK Phil

Dokument: http://www.helmut-hille-philosophie.de/t-selbst.html