Die Genese des Lebens

und das Wesen des Wissens


Zuvor Anhang von (II/7) "Das Gehirn und sein Ich", veröffentlicht in der philosophischen Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" 2/1996
sowie in AGEMUS Nachrichten Wien Nr. 51 (Sommer 1998)


1. Strategie und Definition des Lebendigen

Die Einsicht, daß auch Wissenschaftler sich blindlings auf den Attributationsmechanismus verlassen, also selbstreferentiell argumentieren, hat mich die Anverwandlung des Fremden in das Eigene als Strategie des Lebendigen schlechthin erkennen lassen: Wie der physiologische Apparat sich Objekte als Nahrung einverleibt und sie sich dann stofflich anverwandelt (assimiliert), so bewirkt das kognitive Interesse an den von den Sinnesorganen gewonnenen Daten die Anverwandlung des Fremden in ein Vertrautes durch Projektion eigener Attribute und Motive. Auf diese Weise ist auch Erkennen ein Tun, wie Maturana sagt.* Der Attributationsmechanismus, mit dem Belebtes wie Unbelebtes in Analogie zum Vorgehen des Subjekts gleichermaßen überzogen wird, ist kein zufälliges Verlegenheitsprodukt der Gehirns sondern ein integraler Teil der Anverwandlungsmaschine, die wir Lebewesen nennen.

Leben ist Materie mit der Fähigkeit zur Anverwandlung fremder Strukturen in die eigene, mit dem Ziel der Selbstreproduktion.

Die Definition erfaßt nicht nur die Strategie von Wissenschaftlern bis Viren, sondern selbst die Vorgehensweise der für den Rinderwahnsinn BSE verantwortlichen Prionen. Indem das sog. infektiöse "böse" Prion-Protein nichts anderes macht, als dem sog. gesunden "guten" Protein seine Struktur, das ist seine abweichende Faltung, aufzudrängen, demonstriert es in einzigartig klarer Weise, was Leben ist.
*Humberto Maturana, Was ist erkennen? Serie Piper, München 1996. Hierzu liegt eine Buchbesprechung von mir vor, veröffentlicht in Aufklärung und Kritik Heft 1/1997, jetzt nachzulesen in Text (III/4) Anmerkungen zu Büchern über Erkenntnistheorie.

2. Das Wesen des Wissens

Aber auch jede Erziehung, jede Lehr- und Bekehrtätigkeit ist der Versuch, fremdes Verhalten und anderslautende Überzeugungen dem eigenen Verhalten bzw. der eigenen Überzeugung anzuverwandeln. Auch dieser Aufsatz hier ist natürlich ein solcher Versuch. Die Anverwandlung des Fremden in das Eigene ist die Strategie des Lebens schlechthin. Der aneignende Charakter des Lebens schlägt auch voll auf das Wissen durch und bestimmt das Wesen des Wissens (seine Natur): Wissen ist das Ergebnis der Anverwandlung empfangener Daten an die Verständigkeit des Beobachters, wodurch aus dieser Verschmelzung von objektiven und subjektiven Elementen zu einer neuen Einheit eine neue Wirklichkeit entsteht, die wir die geistige nennen.
(Die wichtigsten Mechanismen dieser Anverwandlung sind in der nachfolgenden Datei (III/3) "Das Verstehen des Verstehens" aufgelistet. Siehe aber auch auf ZEIT UND SEIN die Tagungsbeiträge (2) bzw. (3) "Die Natur des Wissens verstehen".)

3. Die Genese des Lebens oder: Das Ende der Problematik von Henne und Ei?

Zeichner unbekannt
Die Wirkungsweise des "bösen" Prion-Proteins legt für mich den Gedanken nahe, das Leben auf der Erde könnte einst mit Molekülen begonnen haben, die aufgrund der der Materie eigenen Neigung, sich zu verbinden (Affinität), zur Anverwandlung andersstrukturierter, wahrscheinlich aber ähnlicher Moleküle fähig waren, bis eines Tages Moleküle diesen Prozeß nach innen verlegten und sich durch Teilung selbst vervielfältigten. Davor oder danach haben sie das Anverwandlungsmuster in einem eigenen Code niedergelegt, der RNS bzw. der DNS. Entscheidend dabei ist, daß meine Erklärung der Genese von Leben die alte Problematik von Henne und Ei durchbricht und den Übergang von unbelebter zu belebter Materie fließend macht, indem sie die Fortpflanzung einer Struktur durch Anverwandlung als die Eigenschaft einer komplexen Materie versteht, also auf die Henne verzichten kann, auch wenn das als Beispiel benutzte Rinderprion zu seiner Hervorbringung eines genetischen Programms bedarf.


4. Der Stammbaum der Arten

Ist das, was wir "Leben" nennen, einmal etabliert, kann man seine systemische Fähigkeit, fremde Strukturen in die eigene zu verwandeln, als "Autopoiese" beschreiben, von griech autos = selbst und poiein = machen, wie Humberto Maturana dies tut, denn das Ergebnis der Assimilation fremder Energien ist immer wieder das lebendige System selbst. Wenn es aber das Leben auszeichnet, fremde Strukturen in die eigene zu verwandeln (die in der Affinität der Materie angelegt ist und deshalb nicht als "reiner Zufall" bezeichnet werden kann), wie kommt es dann zu der so gegenteilig klingenden Rede heutiger Biologen, wenn wir von Humberto Maturana absehen, vom Leben als ein Produkt der "Anpassung" an sein Medium oder Milieu? Kann man eigentlich mehr daneben liegen? Wie kann etwas durch Anpassung entstehen? Dazu muß es doch ersteinmal existieren. Hat nicht das zur Weitergabe seiner Struktur potente Molekül einfach nur eine sich ihm bietende Möglichkeit zur Reproduktion genutzt? Und ist dies nicht immer noch so? Durch Reproduktionsvarianten, die durch das Reproduktionsverfahren bedingt sind, kommt es laufend zur deren Verzweigung, während das Prinzip der Autopoiese lebendiger Systeme, was Maturana deren Organisation nennt, immer das selbe bleibt, weshalb man auch sagen könnte, dass das Leben eine zu Lasten der Mitwelt sich selbst durchhaltende Organisation von Materie ist. Und jene Strukturvarianten, die lebensfähig sind, bilden dann im Laufe von Millionen und Milliarden Jahren den Stammbaum der Arten mit sowohl absterbenden, als auch neu knospenden Ästen und Zweigen. Die Rede von der Anpassung unterstellt dem Leben, es hätte, wie der Mensch, Ziele, denen es sich unterordnet. Hier ist wieder der unkritische, d. h. der seine Rolle nicht bedenkende Beobachter am Werk - also jener mit der "Realität ohne Gänsefüßchen", wie Maturana sagt* -, der seine Weise teleologischen Denkens unbewußt auf den Forschungsgegenstand überträgt. Dadurch wird ihm das aus der Sicht des Beobachters sich zeigende Ergebnis der Verzweigung zur Strategie des Lebendigen. Aber verkörpert der Mensch als unspezialisierter, d.h. unangepaßter Typ nicht selbst mit der von ihm geschaffenen Zivilisation am besten die Fähigkeit des Lebendigen, fremde Strukturen auf deren Kosten bedenkenlos in die eigene, hier die ihm gemäße zu verwandeln, was ihm mehr und mehr zu einem Problem wird, das die Rede von der Angepaßtheit allen Lebens in fataler Weise verdeckt? Und dann sind da noch jene Evolutionstheoretiker, denen in ihrem mechanistischen Weltbild alles Existierende eine Folge äußerer Umstände ist, welche in ihren Augen "die Anpassung" bewirken würde. So wäre der aufrechte Gang eine Folge des Schwinden des Regenwaldes zu Gunsten der Savanne; das größere Gehirn des Menschen eine Folge eiweißreichen Nahrung usw. Sie stört es nicht, dass es genetisch gar keinen Prozeß der Anpassung sondern nur der Verzweigung gibt. Sie haben die Evolution in ihrem selbstschöpferischen Prozeß, der sowohl Sprünge als auch Pausen kennt, noch überhaupt nicht verstanden.

5. Die Selbstgefährdung des Lebens

Um die Schöpfung nicht bis zur Erschöpfung zu strapazieren, ist es für die globale Menschheit und Wirtschaft unabweisbar geworden, Nehmen und Geben wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, also seine aneignende Strategie zu bedenken und die behauptete Angepaßtheit tatsächlich herzustellen. Wer immer nur nimmt, braucht sich nicht zu wundern, wenn seine Hände eines Tages leer bleiben. Das Leben, als die Anverwandlung des Fremden in das Eigene auf Kosten des Fremden, ist nämlich von Natur aus "böse", wie schon das BSE-Prion deutlich macht (wodurch mit der Anerkennung der Darwinschen Lehre der Papst* sein Theodizeeproblem auf elegante Weise endlich los ist). Was den Charakter des Lebens betrifft, dürfen wir uns keiner Illusion hingeben, denn gerade diesen "teuflischen" Aspekt gilt es in unserer heutigen Machtposition in seiner Auswirkung zu erkennen. Nichts lebt, ohne anderes sich anzuverwandeln und dabei Reste = "Abfall" auszuscheiden - im scheinbar harmlosesten Fall durch Photosynthese, die - durch den dabei frei werdenden aggressiven Sauerstoff - die gesamte Erdatmosphäre zuersteinmal vergiftete. Erst in langen Zeiträumen lernten tierische Lebewesen dann, in ihr für eine Zeit lang zu überleben (man denke nur an die Gefahr durch die "freien Radikalen") und sie zu nutzen, wobei durch ständige Zunahme des Sauerstoffs es immer wieder zur Auslöschung von Arten kam. Heute betreibt der Mensch eine zivilisatorische Anverwandlung des Planeten auf Kosten dessen, was bisher seine Lebensgrundlage war, mit ähnlich fatalen Folgen, nur daß der rückwärtsgewandte Prozeß des Sauerstoffabbaus usw. sehr viel schneller abläuft und so den vorhandenen Arten erst recht keine Zeit läßt, durch Verzweigung ausreichend lebenstüchtige Varianten hervorzubringen, sofern ihnen der Mensch überhaupt einen Lebensraum läßt. Bis er begreift und danach handelt, daß nicht einzelne Arten sondern nur Ökosysteme überleben können, könnte es leicht zu spät sein. Der Moment des größten Triumphes des Menschen über alle anderen Arten, wäre daher unweigerlich auch sein letzter Moment und es bleibt ihm dann nicht einmal mehr die Zeit festzustellen, wie wenig intelligent und angepaßt er doch war. Und das trotz, ja, eigentlich wegen seines großen Gehirns: "Die Krone der Schöpfung" verschlingt in ihrer unermeßlich gewordenen Fähigkeit der Instrumentalisierung des Fremden die Schöpfung selbst. Dieses Phänomen hat, in einer für Wissenschaftler seltenen Offenheit, der Wiener Biologe Franz M. Wuketits "Naturkatastrophe Mensch" genannt, und ist Titel seines gleichnamigen Buches. Der Begriff findet sich jedoch auch schon im Buch "Qualitatives Wachstum" von Hans Mohr.
*Papst Johannes Paul II.

6. Gesundheit: die große Bedeutung der Immunoebene und der Nutzen der Sexualität

Aids, BSE, Bakterienresistenz: Die Selektion findet zwar auch in den Generationen der Phänoebene statt, aber auf der bisher viel zu wenig beachteten Ebene der Immunität ereignet sich der Kampf ums Überleben jeden Augenblick, und zwar ganz präzise. Der "Fittere" ist hier auf Dauer derjenige, der ein besser funktionierendes, breiter angelegtes Immunsystem hat. Nur er kann sich der Fähigkeit des Lebendigen, fremde Strukturen auf deren Kosten bedenkenlos in die eigene zu verwandeln, ausreichend erwehren. Aber wie man heute weiß, kann auch ein unterbeschäftigtes Immunsystem durch Auto-Immunreaktionen gefährlich werden. Wie alles in der Welt und wie sie selbst ist im Leben nichts statisch. Daraus ergibt sich eine allgemeine dynamische Definition von "Gesundheit":

Gesundheit ist ein Zustand des Individuums, bei dem die de- und konstruktiven Kräfte im Gleichgewicht sind,
sowohl die des Körpers, der Seele und des Geistes, als auch diese drei untereinander.

Zu dem körperlichen Gleichgewicht trägt auch die Variation des Erbguts durch die geschlechtliche Fortpflanzung bei, die es dem Körper ermöglicht, sich gegenüber Krankmachern mit kurzer Generationsdauer einen anderweitigen Vorteil zu verschaffen: der drohenden Anverwandlung der eigenen Ressourcen durch Bakterien, Viren und Parasiten mittels Selbstverwandlung durch Neukombination der Gene davonzueilen (s. nachfolgenden Buchhinweis). Zusätzlich wird der Körper durch den doppelten Chromosomensatz der Eltern vor rezessiven Gendefekten eines einzelnen Elternteils geschützt, weshalb die Natur gegen den Inzest ist, der ja sowohl positive wie auch negative Eigenschaften verstärkt. In einer feindlichen Welt sichern Individualität verbunden mit genetischem Abstand das Überleben*. Von ihnen aus ist auch die große Bedeutung der persönlichen Liebe zu verstehen, als die Wahl eines Partners mit gesundem Immunsystem, das vor allem Frauen am sympathischen Geruch erkennen. Ganz allgemein signalisieren Attraktivität und Fitness die Gesundheit eines Partners. Untersuchungen im Tierreich haben gezeigt, dass dies auch objektiv zutrifft: der Vogel mit den glänzenderen Federn und der kräftigeren Stimme ist eben auch der gesündere, was seine genetischen Anlagen betrifft. *(Im Urwald mit seiner großen Mischung von Baumarten ist der räumliche Abstand einer Art untereinander Schutz vor den Parasiten der Zeugenbäume.)

Artenvielfalt verbunden mit Artenbarrieren aller Art und die Individualität sind die wichtigsten Ergebnisse dieses Kampfes ums Überleben, mit der sich das Leben gegen seine eigene Aggressivität zu schützen versucht. (Aber leider haben vor allem Viren, wie das Grippevirus, "gelernt", durch immer neue Änderungen ihres Erbguts, Barrieren zu unterlaufen.)

Diese einzigartige Anstrengung der Natur wird beim Klonen von Nutztierrassen um des Profits willen ausgeblendet. Auch muß vor der Verpflanzung artfremder Organe und (menschlicher) Stammzellen in andere Arten, in einer neuen Variante von Sodomie (die wahrscheinlich die Quelle von Syphilis und Aids beim Menschen ist), eindringlich gewarnt werden, werden doch auch hier leichtfertig Artenbarrieren umgangen. Und jener angebliche "Genschutt", der gerade nicht aktiven Gene, ist sowohl das Gedächtnis der Evolution, als auch die stille Genreserve für Zeiten der Krise. Und was sind schon Gene allein ohne jene Mechanismen, die ihr An- und Abschalten steuern? Liegt da nicht die Vermutung nahe, dass sie im sog. Genschutt zu suchen sind?

Nachtrag: Buchhinweis zum Thema
Nach meinem Umzug innerhalb Heilbronns entdeckte ich im Februar 2007 in meinen Beständen das bis dahin ungelesene Buch "Das bizarre Sexualleben der Tiere. Ein populäres Lexikon von Aal bis Zebra." (Serie Piper München Zürich 2001, 342 Seiten DM 9,90) von Michael Miersch, in dem er zuerst die berechtigte Frage untersucht "Sex warum?" Die Antwort ist dort die fast wörtlich gleiche, wie sie hier seit 1996 zu finden ist, und sie ginge auf William Hamilton zurück, der sie 1980 gegeben und nach der "Roten Königin" benannt hatte, einer literarischen Figur aus dem Buch "Alice hinter den Spiegeln" von Lewis Carroll. Die Rote Königin sagt zu Alice: "Hier mußt du so schnell laufen, wie du überhaupt nur kannst, um wenigstens auf der Stelle zu bleiben." Michael Miersch dazu: "Dies ist die poetische Umschreibung einer großen Überlebensfrage aller Geschöpfe. Ob Rose oder Rotkehlchen, Krake oder Kakerlake, Meerkatze oder Mensch: Alle müssen wir 'so schnell laufen, wie wir können', damit wir nicht von Viren, Bakterien und Parasiten endgültig umgebracht werden. Alle sexuellen Lebewesen frischen durch immer neue Genkombinationen das Abwehrsystem ihrer Nachkommen auf. Und weil sie das tun, gibt es immer ein paar Individuen, die Seuchen überleben, da ihr Immunsystem den Angreifern überlegen war." Diese These hätte sich in der Forschung bestätigt. Am Schluss heißt es: "Männchen - so lautet die nüchterne Botschaft der Evolutionsforscher - sind nichts weiter als ein Produkt weiblicher Gesundheitsvorsorge. Und deshalb unverzichtbar." Ich kann jeden an den Grundfragen des Lebens Interessierten das kenntnisreich, undogmatisch und nicht ohne Humor geschriebene Lexikon zur Sexualität nur empfehlen.
Nachtrag (Buchhinweis) vom 23.02.07

7. Alles ist Ein Leben

Hat man die Genese des Lebendigen vor Augen, so sieht man: alles ist Ein Leben, das sich unendlich verzweigt hat. Da können die Ergebnisse der Genanalyse nicht überraschen. Der Biologe Hubert Markl in einem im FOCUS erschienenen Essay*: "Ist nicht die Feststellung weit erstaunlicher und zugleich - sozusagen evolutionsphilosophisch - von größerer Tragweite, dass wir nicht nur mit den nahe verwandten Menschenaffen genetisch zu etwa 99 Prozent übereinstimmen, sondern dass uns auch von der Hausmaus kaum mehr als ein Prozent unseres Genbestands trennen und - und wohl noch erstaunlicher - dass 40 bis 60 Prozent unserer Proteine denen eines Wurms, einer Hefe oder einer Fliege recht ähnlich sind? Nur etwa sieben Prozent aller bekannten Proteinfamilien sind für die Wirbeltiere spezifisch, den größeren Rest teilen wir mit fast allen anderen bisher daraufhin untersuchten Lebewesen." Und die Schlußfolgerung daraus ist: "Auch wenn 99 Prozent unseres Genoms sich in Menschenaffen wieder finden, heißt das nicht, dass im restlichen Prozent unsere Menschlichkeit verborgen ist. Der ganze Mensch ist in den 100 Prozent seines Genoms angelegt, aber überreichlich davon ist altes und unleugbares Tiererbe - viel Tier im Menschen oder viel Mensch im Tier, wie immer man will." In diesem Einen Leben lebt vieles voneinander und füreinander. Selbst die größten und stärksten Lebewesen können wieder Nährboden der allerkleinsten sein und von ihnen überwältigt werden. Das individuelle Leben ist da nur ein Glied in einer unendlichen Kette des Lebens. Das schließt aber nicht aus, daß ein sich seines Daseins bewußtes Wesen, wie der Mensch, in einem weiteren selbstschöpferischen Prozeß seinem Leben einen individuellen Sinn geben kann. Darüberhinaus ist der Mensch, in seiner heutigen Mächtigkeit, die ihn zum Herrn der Erde gemacht hat, geradezu verpflichtet, auch im eigenen Interesse, sich selbst Zügel anzulegen, sich in Zahl und Zielen zu begrenzen, um das Wunder des Leben vor billigem Verbrauch zu schützen.
*Der immer weitere Horizont, abgedruckt in FOCUS 11/2001

8. Der Mensch - ein nackter Affe?

Bei so viel genetischer Nähe zu Menschenaffen liegt es schon nahe, den Menschen als einen "nackten Affen" zu bezeichnen, wie dies der Titel eines Buches von Desmond Morris tut.* Doch m.E. wissen wir nicht, auf welcher Stufe seiner Genese der Mensch sein Affenfell verlor und ob er da noch "Affe" genannt werden darf. Von den Hominiden sind uns nur Knochen und Artefakte überliefert. Bei der großen Bedeutung der mit der Hand verbundenen Feinfühligkeit für die Ausprägung differenzierter, spezifisch menschlicher Erkenntnisfähigkeit, liegt für mich die Annahme nahe, daß die Nacktheit ebenfalls etwas mit der sich entwickelnden Sensibilität des Greiforgans zu tun hat. Vielleicht wurden von Feinfühligen, Zärtlichkeit Suchenden, wobei es sich schon damals überwiegend um Frauen gehandelt haben dürfte, eines Tages einfach Partner mit weniger zotteligen Fell beim Zusammenleben und bei der Paarung bevorzugt, woraus sich eine genetische Drift zu mehr Nacktheit in Gang setzte, die mit den wachsenden handwerklichen und geistigen Fähigkeiten korrespondierte. Diese wiederum ermöglichten ihrem Besitzer, Nachteile der Nacktheit durch Bekleidung und Behausung zu kompensieren und sich damit an das jeweilige Klima schnell anpassen zu können, was dazu führte, daß Menschen in allen Klimazonen siedeln konnten.** Und so könnte es durchaus stimmen, wie es im AT Mose 3 heißt, daß Adam, von Eva veranlaßt, mit ihr vom Baum der Erkenntnis zu essen, mit seinem Weibe erkannte, "daß sie nackt waren", d.h. Vorfahren von uns nahmen eines Tages den auch äußerlich erkennbar gewordenen Unterschied zwischen Mensch und Tier nachdrücklich wahr. Von einem nackten Affen konnte da keine Rede mehr sein. Warum aber soll der Mensch seine Nacktheit verstecken, außer aus Witterungsgründen und der Hygiene wegen? Soll er sich schämen, kein Affe mehr zu sein? Soll er der Wahrheit seines Nacktseins, das für sein Menschsein steht, nicht in die Augen sehen dürfen, nachdem sie ihm "aufgetan" wurden? Hier spiegelt sich im Aufgang des Bewußtseins zugleich der Zeitgeist einer Kultur und Epoche, der konserviert werden soll, weshalb seine Sitten als Gebote der höchsten denkbaren Autorität so eindrucksvoll in den Mund gelegt werden, daß man sich auch heute noch auf sie beruft. Natürlich hat das Versteckspiel auch seine modischen sowie Macht und Reichtum demonstrierenden Seiten und manchem Sittenstrolch wird sicher sein Vorgehen erschwert. Und manchen Anblick möchte man sich schon ersparen, wenngleich der sicher weniger schlimm wäre, wenn der-/diejenige wüßte, daß es keine Möglichkeit des Versteckens gibt.

© HILLE 1996-2005/2007

*Martina Daiber aus Ravensburg beschreibt das Problem so: Eine Affenfamilie bekommt Nachwuchs. Der Affenpapa schaut ganz besorgt auf das spärlich behaarte Baby. Daraufhin beruhigt ihn die erfahrene Affenmama: "Keine Sorge! Am Anfang sehen alle wie Menschen aus."
**Auch Allesfresser zu sein, ermöglichte dem Vormenschen jene unspezialisierte Art "Mensch" zu werden, die alle Ressourcen nutzen kann. s. auch Anmerkungen zur Hominidenforschung (2) und (3) in Datei (III/1a)


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